Der Rhythmus des Unzugänglichen

ZWEIKLANG Zehn Jahre lyrikline.org: Am Montag eröffnete Horst Köhler in der Berliner Literaturwerkstatt eine Festwoche zu Ehren des Onlineportals, das Gedichte zweisprachig hören und lesen lässt

Es ist einigermaßen unwahrscheinlich, dass in näherer Zukunft ein Gedichtband des portugiesischen Lyrikers Luís Carlos Patraquim in deutscher Übersetzung publiziert wird. Was weniger mit der Qualität seiner Texte zu tun hat als vielmehr mit der Situation auf einem Literaturmarkt, der auch deutschsprachiger Lyrik, wenn überhaupt, nur Auflagen von ein paar hundert Exemplaren erlaubt.

Dass man Patraquim trotzdem in deutscher Übersetzung lesen und sogar gleichzeitig auf Portugiesisch hören kann, ist das Verdienst der vor zehn Jahren von der Berliner Literaturwerkstatt unter der Projektleitung von Heiko Strunk ins Leben gerufenen Website lyrikline.org. Patraquims „O Círculo“, publiziert am 26. Oktober, ist das jüngste von mittlerweile knapp 5.500 auf lyrikline.org erschienenen Gedichten: „Und wär der Winter nicht, schmuddelweiß / Hängend von den Bäumen / Innehaltend in hüstelnder Pose“, heißt es in der Übersetzung von Richard Pietraß.

Was 1999 als deutschsprachiges Projekt mit gerade einmal 16 Autoren begann, ist inzwischen längst internationalisiert und polyglott: Insgesamt sind heute mehr als 600 Dichter in 48 Sprachen auf lyrikline.org vertreten. Das Portal, das sich überwiegend aus Mitteln des Landes Berlin finanziert, beweist, wie gut sich Lyrik – im Gegensatz zur Prosa – für eine Veröffentlichung im Internet eignet. Was zum einen daran liegt, dass ein Gedicht meist kurz ist und deshalb ein Lesen am Bildschirm nicht so sehr ermüdet. Zum anderen entfalten viele Gedichte erst, wenn sie auch gehört werden können, ihr volles Potenzial. Denn oft ist ihr Rhythmus, darin ähnelt die Lyrik dem Jazz, äußerst komplex. Gerade für die zahlreichen auf lyrikline.org vertretenen Übersetzungen ist diese Gleichzeitigkeit der Rezeption eine große Hilfe, da man dem Klang der Originalverse folgen und währenddessen die Übersetzung mitlesen kann.

In dieser Woche findet in Berlin die Festwoche „10 Jahre lyrikline.org“ mit Lesungen von über 60 Dichtern aus 22 Ländern statt. Den Anfang machte am Montagabend die durch Bundespräsident Horst Köhler eröffnete Veranstaltung „Passwort: Poesie“ mit Monika Rinck und der südafrikanischen Dichterin Lebogang Mashile.

Roter Teppich für die Dichtung

Schon das glamouröse Ambiente inklusive rotem Teppich und uniformierten Türstehern offenbarte, dass dies keine x-beliebige Lyriklesung sein würde. Als der Bundespräsident schließlich das Podium betrat und über „die schöpferischen Initiativen von Minderheiten“ – gemeint waren damit die Dichter – fabulierte, war klar, dass es sich, zumindest für Horst Köhler, überhaupt nicht um eine Lyrikveranstaltung handelte. Eher um so etwas wie um eine Gedenkfeier, auf der wir, die Bewohner des Landes der Dichter und Denker, unserer Dichtung gedenken sollten.

Dann kam Monika Rinck, die in ihrem spannenden Vortrag vom „Gedicht als philosophischer Tat“ sprach, von einer Lyrik, die Toleranz gegenüber dem Unzugänglichen schaffen könne: eine Akzeptanz des Unverstehbaren. Sie breitete aus, wie Sprache durch die sich im Laufe der Jahrhunderte stetig verändernden Wortbedeutungen immer auch eine „Begriffsgeschichte als Konfliktgeschichte“ sei. Sie schloss mit der Frage: „Warum sollte es eigentlich uns gelingen, das Gedicht abzuschaffen?“

Nach einem kurzen Break erzählte Lebogang Mashile von der oralen Tradition der südafrikanischen Dichtung, davon, wie die abstrahierende Schriftlichkeit der Kolonialisten nach und nach die Oralität und damit auch eine bestimmte Art der Geschichtsschreibung verdrängte. Schön war das, wie sie nahtlos vom Vortrag in ein Gedicht wechselte, um dann, als sei nichts gewesen, wieder in ihre Rede zurückzukehren.

ANDREAS RESCH

www.lyrikline.org ■ Programm der Festwoche unter: www.literaturwerkstatt.org