Ein Klassiker

SOUNDTRACKS Irmin Schmidt, Mitbegründer von Can, setzt auf den kreativen Fehler, auch bei seiner „Filmmusik Anthology Vol. 4 & 5“

Seit der Auflösung von Can Ende der Siebzigerjahre ist Schmidt als Komponist, Pianist und Dirigent eine der zentralen Figuren der Avantgarde

VON THOMAS WINKLER

Konzertsaal oder Museum, das ist Irmin Schmidt eins. Gestern hat er Haydn gehört in der Staatsoper Unter den Linden, eben war er in der Gemäldegalerie und jetzt schlendert er durch die Neue Nationalgalerie. Schmidt ist zu Besuch in Berlin, das muss er ausnutzen. Und an der Wand hängen gute alte Bekannte: Max Beckmann, „einer meiner Liebsten“, sagt Schmidt, oder Henri Michaux, „den mag ich sehr, der hat LSD genommen“.

Schmidt, der Gedanke drängt sich angesichts der versammelten Kunstgeschichte unweigerlich auf, ist selbst ein Klassiker: 1968 gründete er Can, die bis heute womöglich einflussreichste deutsche Rockband. Seit der Auflösung der von Punkbands und Elektronik-Musikern gleichermaßen verehrten Kölner Formation Ende der Siebzigerjahre ist Schmidt als Komponist, Pianist und Dirigent eine der zentralen Figuren der Avantgarde – nicht nur hierzulande, sondern weltweit. Und wohl auch – neben Frank Zappa – der Einzige, der zeitlebens in der Rockmusik ebenso zu Hause war wie in der Klassik.

Davon allerdings, hat Schmidt feststellen dürfen, kann man nicht immer wirklich gut leben. Schon gar nicht in der Provence, wo er schon seit Jahren wohnt. Auch deshalb hat der mittlerweile 72-Jährige immer wieder für Film und Fernsehen gearbeitet. So hat Schmidt über die Jahre eben nicht nur eine Oper komponiert („Gormenghast“, 1998) oder ein Ballet („La Fermosa“, 2008), sondern eben auch mehr als 120 Soundtracks. Das ist, sagt er, „auf jeden Fall auch Brot und Butter“.

„Filmmusik Anthology Vol. 4 & 5“ versammelt auf zwei CDs nun einige dieser vornehmlich Auftragsarbeiten, die entstanden sind für Wim Wenders’ „Palermo Shooting“ und Hans Geißendörfers „Schneeland“, aber auch für Fernsehfilme und TV-Serien wie den „Tatort“ oder „Bloch“.

Schon Can haben Soundtracks aufgenommen. Damals sah sich allerdings nur Schmidt die Filme an, berichtete dann seine Eindrücke den Mitmusikern Jaki Liebezeit, Holger Czukay und Michael Karoli, die daraufhin die Vertonung von Roland Klicks „Deadlock“ (1970) oder Wenders’ „Alice in den Städten“ (1973) improvisierten. Das war weniger der Faulheit der Kölner Band geschuldet, sondern Prinzip, um sich die konzeptionelle Offenheit zu erhalten.

Eine Offenheit, die nach dem Ende von Can auch stets das Schaffen von Schmidt auszeichnete, der nach seinem Musikstudium schon als Kapellmeister arbeitete, bevor er mit Can zur Rockmusik kam. „Ich wollte immer alles zusammenbringen, was im 20.Jahrhundert entstanden ist“, sagt Schmidt. Weidlich ausnutzen konnte er dabei den Umstand, dass man als Musiker „in einem Raum lebt, in dem alles gegenwärtig ist. Für mich sind Strawinsky und Hendrix Zeitgenossen“. Heute arbeitet er, auch zusammen mit seinem Schwiegersohn, dem Londoner DJ Kumo, weiter an den Grenzen zwischen Pop und Neuer Musik.

Die bildende Kunst war Schmidt für seine Kompositionen allerdings schon immer mindestens ebenso wichtig. Auch die Idee, asiatische oder indianische Elemente zu adaptieren, eine der Pionierleistungen von Can, führt der ehemalige Student der Ethnologie, während er unter einem Picasso steht, auf die Kunst zurück: „Damit haben die Maler schon hundert Jahre vor uns angefangen.“

Auf der neuen Anthologie sind diese Einflüsse allerdings nur bedingt zu hören. Schmidt bedient sich kaum bei exotischen Melodien oder Harmonien. Mit traditionellen Strukturen aus dem Jazz und elektronischen Klangerzeugern hat er atmosphärische, oft getragene, aber stets von großer Luftigkeit durchdrungene Stücke komponiert, die ganz souverän im Ungefähren verharren. Ein bewusster Gegenentwurf zum Emotionsdiktat gewöhnlicher Film-Scores. So ist vor allem zu hören, dass Schmidt keiner jener Soundtrack-Komponisten ist, die allzu aufdringlich und durchschaubar die Absichten des Bildes zu unterstützen suchen. Er mag seit sechs Jahren Großvater sein, aber darüber kann er sich immer noch aufregen: „Ich weigere mich, Filme mit dieser Soße zu überziehen, die eigentlich gefragt ist.“

Nein, das, was die Kollegen in Hollywood vormachen, allen voran die Oscar-prämierte deutsche Branchengröße Hans Zimmer, das ist Schmidts Sache nicht: „Filmmusik muss dem Film etwas hinzufügen, soll sich aber auch nicht hervortun und wichtig machen“, grummelt er, „es ist schön, wenn die Leute die Musik gar nicht wahrnehmen, sie aber trotzdem eine wichtige Rolle spielt – ohne das Filmgeschehen einfach zu verdoppeln.“

Diese Prinzipien setzt Schmidt mittlerweile kaum mehr am Klavier um, sondern mit moderner Elektronik. Auch wenn er sich weigert, in die technischen Feinheiten einzusteigen, denn „um die Technik zu beherrschen, braucht man sehr viel Zeit – und die verbringe ich lieber im Museum oder im Konzert“. Deshalb hat er Justus Köhncke engagiert. Das Exmitglied von Whirlpool Productions übernimmt das Programmieren für den Altmeister, der immer noch standhaft Nickelbrille trägt: „Ich komponiere“, lächelt Schmidt, „aber der Justus muss es eintippen.“

Das war zu Can-Zeiten noch ganz anders: Damals konnte der Stockhausen-Schüler Irmin Schmidt gar nicht genug kriegen von den neuen Möglichkeiten, die die ersten elektronischen Klangerzeuger eröffneten. Interessiert hat ihn aber immer, sagt er, vor allem „der zerstörerische Gebrauch simpler Technik“. Erst der Fehler im System erhob die Musik zur Kunst und da wurde bisweilen schon mal nachgeholfen mit roher Gewalt. Diese Herangehensweise an die Elektronik, die Schmidt „punkig“ nennt, hat er miterfunden, mittlerweile hat sie Schule gemacht.

Sie ist allerdings heutzutage weit schwieriger umzusetzen. Denn „ein Computer, den man kaputt macht, der funktioniert nicht fehlerhaft, sondern einfach gar nicht mehr“. Das diagnostiziert Schmidt als größtes Problem der digitalen Technik: Der Fehler führt nur noch zum Defekt, nicht mehr zum kreativen Fortschritt. Wo Schmidt früher kreativ war, das ist mittlerweile im westfälischen Gronau zu besichtigen. Vom dortigen Rock-’n’-Pop-Museum wurde das alte Studio von Can aus Weilerswist bei Köln aufgekauft, restauriert und ist nun ausgestellt. Die eigene Musealisierung findet der ehemalige Keyboarder der wegweisenden Band nur angemessen: „Da fühle ich mich gar nicht komisch bei. Sie haben ja gesehen, wie gerne ich ins Museum gehe“, lacht Schmidt im Keller der Nationalgalerie. Mit dabei sind, immerhin durch ihre Werke, Peter Sorge und Ulrich Rückriem, Weggefährten aus alten Zeiten im Rheinland. „Jeder Maler, der im Museum landet“, sagt Irmin Schmidt angesichts der alten Kumpel, „der ist ja am Ziel.“

■ Irmin Schmidt: „Filmmusik Anthology Vol. 4&5“ (Warner)