Wuchtige Brocken in Schwarz-Weiß

IN FILM GEMEISSELT Der ungarische Regisseur Béla Tarr hat Georges Simenons Roman „The Man From London“ fürs Kino adaptiert

Die Figuren, die Einstellungen, die bewegten Tableaus gewinnen etwas Sakrales

VON EKKEHARD KNÖRER

Ein Schiff im Hafen. Ein Koffer voller Geld. Ein Zug, der abfährt. Eine Leiche im Wasser. Ein Vater, der allzu sehr ums Ansehen seiner Tochter besorgt ist. Ein Polizist aus London taucht auf, ein Dieb aus London verschwindet. Dies sind die Elemente, die Béla Tarr in seinem jüngsten, in Schwarz-Weiß gedrehten Film versammelt. „The Man From London“ beruht auf einem gleichnamigen Roman von Georges Simenon und will dennoch ganz sicher kein oder jedenfalls sehr viel mehr als ein Krimi sein. In die Mitte dieser Elemente platziert Tarr seine Zentralfigur, einen Mann namens Maloin (Miroslav Krobot), der im Dienst der Bahn Weichen stellt.

Blick- und Bildstücke

Maloin sitzt im Hafen in einem Glaskäfig auf Stelzen und verfolgt das Geschehen um ihn herum: links die Mole, in der Mitte das Schiff, von dessen Treppe nach rechts die Passagiere mit wenigen Schritten die abfahrbereite Bahn erreichen. Zwischen der Mole, dem Schiff und der Bahn als helle weiße Flecken im Schwarzen scharf definierte Inseln aus Licht. Bevor er sich jedoch auf diese räumlich eng begrenzte Szenerie konzentriert, beginnt der Film mit dem ruhig gleitenden Blick der Kamera auf das im Hafen liegende Schiff. Von der Wasseroberfläche den Schiffsrumpf entlang bewegt dieser Blick sich minutenlang schwankend langsam nach oben – und es bleibt konstitutiv unklar, wie weit es sich um einen neutralen oder Maloins subjektiven Beobachterblick handelt.

Aus Blick- und Bildstücken dieser Art setzt Tarr (mit Hilfe seiner als Koregisseurin genannten Cutterin Ágnes Hranitzky) seinen Film und die Geschichte zusammen, die allerdings durch dieses Verfahren immer wieder in ihre für sich stehenden Einzelteile zu zerfallen droht. In eigentlich jeder Passage erkennt man dabei sehr wohl den Béla Tarr wieder, der ein erratisches Meisterwerk wie „Sátántangó“ (1994) geschaffen hat. Das war ein sechsstündiger Film, der den Betrachter mit meisterhaft gehandhabten filmischen Mitteln rettungslos in eine morastig-verlorene Welt abseits städtischer Zivilisation zwingt. Überaus einflussreich war der Stil, mit dem Tarr auch sein eigenes Werk für „Sátántangó“ neu erfand. Lange Kamerafahrten, an Rücken und Schulter der Figuren geheftet. Minutenlange Bewegungen, die die Orte quälend minutiös erschließen und dabei den Raum und die Zeit geradezu körperlich spüren machen.

Nicht nur Béla Tarrs einstiger Lieblingsschüler, der deutsche Regisseur Fred Kelemen, inzwischen Tarrs Kameramann, hat daraus viel fürs eigene Schaffen gelernt. Gus Van Sant macht kein Geheimnis daraus, dass Tarrs Werk für viele der langen Kamerafahrten in seinen experimentelleren Filmen wie „Gerry“ oder „Elephant“ Pate stand. Das Eigentümliche an „The Man From London“ ist nun, dass Béla Tarr, der große Erfinder einer eigenen filmischen Form, inzwischen eher wie ein Epigone seiner selbst wirkt, wie jemand, der seine einmal gefundenen welterschließenden Eigenarten auch einem Stoff aufzwingt, der dieser Zurichtung so heftig wie im Endeffekt chancenlos widerstrebt.

Aus Simenons atmosphärischer Geschichte sprengt „The Man From London“ Einzelmomente geradezu skulptural heraus und meißelt sie per Lichtsetzung und Kamerafahrt zu wuchtigen Brocken. Das Pathos, das bei Simenon stets hinter der lapidaren Beschreibung ungeordneter Weltläufe verborgen bleibt, kehrt Béla Tarr mit voller Absicht heraus. Dadurch aber gewinnen seine Figuren, seine Einstellungen, seine bewegten Tableaus etwas nachgerade Sakrales. Die Musik von Mihály Vig tut das ihre dazu: eisig-wuchtige Synthesizer-Flächen, wie man sie zuletzt in Nico-Songs Mitte der 70er-Jahre zu hören bekam. Weder vor ostentativen Schwenks Richtung Himmel noch vor gleißendem Gegenlicht durch das Fenster noch vor per Lichtsetzung erzeugtem Heiligenschein auf dem Haupt seines Helden schreckt Tarr, ins unfreiwillig Komische gleitend, zurück.

Ein sinkendes Schiff

Und nicht wie Individuen, sondern wie in Stein gemeißelte Götter sprechen die Figuren meist auch – der Nachsynchronisierung wegen, die der zusammengewürfelten Besetzung geschuldet ist. Selbst die große Tilda Swinton wird hier, makellos Französisch sprechend mit fremder Stimme, zum Fremdkörper unter Fremdkörpern auf einem sinkenden Schiff.

■ „The Man from London“, Regie: Béla Tarr, Koregie: Ágnes Hranitzky. Mit Miroslav Krobot, Tilda Swinton u. a. Ungarn/Frankreich u. a. 2007, 139 Min.