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Einen Blick von außen auf das Geschehen gibt es nicht. Der Film selbst ist genauso verrückt wie sein Held

Herbst im Hangar

7.44 Uhr. Der Radiowecker schaltet sich ein. Caden Cotard (Philip Seymour Hoffman) erwacht. Im Radio zitiert und analysiert eine Literaturprofessorin mit deutschem Akzent Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Caden Cotard, Theaterregisseur und Dramatiker, wird seine Frau, seine Tochter und möglicherweise seinen Verstand verlieren. Herbst wird es in seinem Herzen und Winter. Er wird in einem riesigen Haus, einer Art Hangar genauer gesagt, eine unüberschaubare Welt einrichten und nicht zuletzt sein eigenes Leben auf eine Bühne ohne Publikum bringen. 7.44 Uhr: Mit den ersten Bildern des Films gerät Caden Cotards Welt, gerät die Zeit, die Wirklichkeit, gerät alles, woran man sich als Betrachter eines Films sonst so festhält, ins Rutschen.

Berühmt geworden ist Charlie Kaufman, der mit „Synecdoche, New York“ sein Regiedebüt gibt, als Drehbuchautor postmodern verschachtelter Filme wie „Being John Malkovich“ und „Vergiss mein nicht!“. Darin werden Identitäten in Metaebenen gestapelt, Köpfe mal so und mal andersrum aufgesetzt, Stockwerke halbiert, Malkovich vervielfacht, und überhaupt kennt die dekonstruktive Fantasie Kaufmans in diesen Filmen kaum ein Halten. Das ist aber alles nichts im Vergleich mit „Synecdoche“. Kein Spike Jonze oder Michel Gondry bringt als Regisseur eigene Struktur in Kaufmans virtuoses Durcheinander. Und nichts und niemand hindert den Autor diesmal daran, seinen finstersten Obsessionen Ausdruck zu geben und Angst, Furcht und Schrecken in die heillos zentrifugale, in wilden Ellipsen Jahrzehnte durchmessende Erzählung eines Künstlerlebens zu jagen.

Der Künstler Caden Cotard ist buchstäblich ein zuckendes, zitterndes Bündel, das in ständiger Todesangst lebt, ein Ich, das ein Es ist, eine endlos gespaltene Person, die weder sich noch die Welt in eine vernünftige symbolische Ordnung bekommt. Aus Angst vor Blut im Stuhl begutachtet er seine eigene Scheiße, aus Angst wovor auch immer heult er beim Sex, aus Angst davor, dass nichts bleibt, inszeniert er, ohne an ein Ende zu kommen, das Mega-Theaterstück in der erwähnten Riesenhalle in Manhattan. Synekdoche ist der Name einer rhetorischen Figur, die beschreibt, dass ein Teil für das Ganze steht. Die Pointe ist allerdings, dass in „Synecdoche, New York“ genau diese Relation systematisch zerstört wird: Es bleiben nur sich verselbstständigende Einzelteile, die für nichts Ganzes mehr stehen.

Einen Blick von außen auf das Geschehen, eine Totale, die Cotard zu einer Figur unter anderen machte, gibt es nämlich nicht. Der Film selbst ist deshalb nicht weniger verrückt als sein Held. Man muss ihm auf seinem Schlingerkurs folgen: in eine Peepshow in Berlin mit Cadens ganzkörpertätowierter Tochter; ins Apartment seiner früh aus dem Film verschwundenen Exfrau (Catherine Keener), in dem Caden im regelmäßigen Putzeinsatz tätig ist; ins über Jahrzehnte fröhlich vor sich hin brennende Haus seiner Assistentin Hazel (Samantha Morton).

Frühere Filme nach Kaufman-Büchern hatten immer noch wenigstens eine lustvoll spielerische Seite – davon kann nun kaum mehr die Rede sein. „Synecdoche, New York“ ist eine Erzählung, die das Leben als fortwährendes Rennen durch Sackgassen begreift: Am Ende steht immer eine Wand, und sei es die „vierte Wand“ des Theaters. Die Konsequenz, mit der Kaufman seine Abfolge von Sackgassen und Wänden als irrlichternde Fantasie-, Zeit- und Raumflucht inszeniert, kennt kaum ihresgleichen. Darum ist „Synecdoche, New York“, was immer man sonst davon hält, jedenfalls eines: ein einzigartiges Werk.

EKKEHARD KNÖRER

■ „Synecdoche, New York“. Regie: Charlie Kaufman. Mit Philip Seymour Hoffman, Catherine Keener u. a. USA 2008, 120 Min. Der Film erlebt seine Premiere in Deutschland auf DVD. Ab 11,95 € im Handel