Erniedrigung in Würde umkrempeln

LITERATURNOBELPREIS (2): Am Montag hielt Herta Müller die traditionelle Nobelpreis-Vorlesung in Stockholm. Sie erzählte Geschichten aus einer Zeit, in der ein Gespräch über Taschentücher fast ein Verbrechen ist

Ob sie ein Taschentuch dabei hatte und wer es ihr zugesteckt haben könnte, verriet Herta Müller nicht. Auch war nicht zu erkennen, ob ihr schwarzes Gewand, das ihr etwas Strenges, Nonnenhaftes verlieh, überhaupt Taschen besaß, in denen sie es hätte bergen können. Doch vom Taschentuch handelte ihre Stockholmer Vorlesung zur Nobelpreis-Verleihung, diesem universell nutzbaren Gegenstand, der bei Schnupfen, Tränen, Nasenbluten, Abschiednehmen ja sogar beim Sterben zur Anwendung kommt, wenn den Toten ein Taschentuch ums Kinn gebunden wird, bevor die Leichenstarre einsetzt.

Vom Satz der Mutter – „Hast du ein Taschentuch?“ – mit all seiner indirekten Zärtlichkeit ausgehend, durchforschte sie ihr rumänisches Leben, bis hinein in die Taschentuchschubladen des Banater Elternhauses und bis zur abschließenden, ins Allgemeine überhöhten Sentenz: „Kann es sein, dass die Frage nach dem Taschentuch seit jeher gar nicht das Taschentuch meint, sondern die akute Einsamkeit des Menschen?“

Auch wenn Herta Müller nur über Taschentücher sprach, dauerte es doch nur ein paar Minuten bis zu ihrem eigentlichen Thema: Rumänien in der Diktatur, die Securitate, die Schikanen. Es ist eigentlich ganz egal, worüber sie spricht, weil es doch immer um dasselbe geht. „Ich habe das Thema nicht gewählt, das Thema wählt mich“, sagt sie in einem Telefoninterview mit der Nobelstiftung, das auf deren Internetseite anzuhören ist.

Dort werden auch die „Lectures“ der Preisträger live übertragen. Das ist, in der Summe der Vorlesungen, durchaus lehrreich: Zwischen Medizin und Physik erscheint Literatur als seltsam altertümliches Fach, das nicht im Hörsaal der Universität, sondern in einem repräsentativen Festsaal mit Kronleuchtern und goldenem Zierrat angesiedelt ist und wo es tatsächlich keine Power-Point-Präsentation gibt. Hinter Herta Müller steht keine Videoleinwand, sondern eine Marmorbüste. Dieser Unterschied hat Konsequenzen, denn er macht es möglich zu erzählen, während Naturwissenschaftler ja nur noch erklären können und mit Lichtpunkten ihre Statistiken verdeutlichen.

Herta Müller erzählte von ihrer Arbeit als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik, von den Anwerbeversuchen durch den Geheimdienst, ihrer Weigerung zu kooperieren und den daraufhin einsetzenden Schikanen. All das ist aus ihren Büchern lange bekannt, so auch die Szene, in der sie sich, weil ihr der Schreibtisch weggenommen wurde, im Treppenhaus der Fabrik auf ihr Taschentuch setzte. Sie berichtete auch von ihrem Freund Oskar Pastior und seiner Taschentuch-Geschichte, die in dem Roman „Atemschaukel“ nachzulesen ist: Er, der verschleppte Deutsche im russischen Arbeitslager, bekommt von einer Russin ein Batisttaschentuch geschenkt, weil sie dabei an ihren Sohn denkt, der ebenfalls im Lager ist.

Exemplarisch führte Müller vor, wie sie, von den Dingen ausgehend und von den Worten, zu ihren Geschichten findet. „Um uns der eigenen Existenz zu versichern, brauchen wir die Gegenstände, die Gesten und die Wörter“, sagte sie. „Je mehr Wörter wir uns nehmen dürfen, desto freier sind wir doch. Wenn uns der Mund verboten wird, suchen wir uns durch Gesten, sogar durch Gegenstände zu behaupten. Sie sind schwerer zu deuten, bleiben eine Zeit lang unverdächtig. So können sie uns helfen, die Erniedrigung in eine Würde umzukrempeln, die eine Zeit lang unverdächtig bleibt.“

Später dann, im Westen, scheint es keine Taschentücher mehr gegeben zu haben. Jedenfalls nichts, was sich darüber berichten ließe. Mit Müllers Übersiedlung nach Westberlin im Jahr 1987 enden die Geschichten. Armes Land, das keine Taschentücher nötig hat? Oder sprechen die Dinge hier bloß eine andere Sprache? Darüber würde man von Herta Müller gerne einmal etwas hören. JÖRG MAGENAU

■ Lecture: www.nobelprize.org