HAUSTIERE (IV)
: Die heikle Balance

Eine Ameise fällt mir ins Ohr

Sie antworten nicht, die Ameisen. Sie stellen sich dumm und tun so, als würden sie mich nicht verstehen. Doch ich weiß: Seit geraumer Zeit beobachten sie mich. Ich liege im Wohnzimmer ebenerdig auf dem Teppichboden. Hinter der Schiebetür aus Glas beginnt der Garten – allein mein – ein Zugeständnis für die höhere Gartenhausmiete, Erdgeschoss. Ich weiß, dass keine drei Meter entfernt eine Ameisenstraße verläuft. Ein Trampelpfad, durch den seit Wochen – ich hatte anderes zu tun – nicht gemähten Rasen.

Wenn ich hinausgehe, mich an den Rand ihrer Straße knie wie ein nach ihren Maßstäben überdimensionierter Anhalter, bremsen sie trotzdem nicht. Drängeln sich unbeirrt Richtung Buchenhecke. Ich unterbreche ihren Verkehr mit dem Zeigefinger. Sie klettern meinen Arm hoch und springen mir auf die Schultern wie Ratten oder dressierte Papageien. Eine fällt mir ins Ohr. Ich frage: Warum habt ihr alle dasselbe Ziel? Die Ameise morst, die sechs Beinchen auf dem gespannten Trommelfell, ein polyphones S-O-S. Oder eine elfte Symphonie von Mahler?

Vor nicht all zu langer Zeit schickte mir ein Freund aus der Ferne ein Gedicht: „Licht und Finsternis/ Ich komme nach Haus, mache das Küchenlicht an/ und überrasche ein Handvoll roter Ameisen:/ Sie lecken die Teller blank/ und schleppen Essensreste davon/ Kein Problem, Jungs! Aber in Gedanken/ warne ich sie vor der Überbevölkerung:/ Jetzt befindet sich unser Ökosystem noch im Gleichgewicht./ Aber wenn ich Arbeit finden sollte,/ esse ich mehr, kommen mehr Freunde und Frauen zu Besuch,/ es wird mehr übrig bleiben und ihr euch stärker vermehren./ Es kann sein, dass ich Gift streuen muss?/ Nur meine Armut hält uns/ in dieser heiklen Balance.“

Dem kann ich ohne Einschränkung zustimmen. Nehmt euch in Acht, ihr Achtfüßler!

TIMO BERGER