Neue Lockerheit

KONZERT Die Goldenen Zitronen verwandeln den Festsaal Kreuzberg schnell in eine pogende Garküche speedfressender Hühner – „Yeah!“

„Welcher Tanz ist der Distanz?“, fragt Sancho Pansa Don Quijote de la Mancha. Fans der Goldenen Zitronen stellen sich diese Frage nicht. Sie haben schon automatisch eine Distanz zur Hamburger Band eingebaut, die sie Musik und Texte erst in zweiter Ordnung genießen lässt. Popmusik kann lästig sein! Und wenn dann tatsächlich irgendwelche Unverbesserlichen nach dem Funpunk-Debütalbum „Porsche, Genscher, Hallo HSV“ schreien, hat das fast schon wieder Stil. Die Band tut ein Übriges, um das Lästige betonen. Ihre Bühnenshow ist stets durchschaubar, stellt das Gemachtsein ihrer Musik routiniert zur Schau, und trotzdem ist ein Restgehalt unbestimmbarer Rock ’n’ Roll im Zitronen-Blut, etwa wenn sie das Publikum in Wortgefechte verwickeln und scheinheilig fragen, ob jemand Unbehagen verspürt.

Im Herbst war ein neues Zitronen-Album erschienen, „Die Entstehung der Nacht“, mit Songs, die sich etwa auf die Finanzkrise und den Unfalltod von Jörg Haider beziehen und dabei freifließende Genres wie Krautrock oder Elektro streifen. In ihrer altersmilden Variante, als erweiterte sechsköpfige Besetzung, klingen die neuen Songs auch als Live-Fassung äußerst tight. Über die Jahre haben sich die Zitronen von den Punkkonventionen freigestrampelt, und mit dieser neuen Freiheit kommt eine Lockerheit zum Vorschein, die gar nicht mehr möglich schien.

An diesem arschkalten Dezemberabend verwandeln sie den Festsaal schnell in eine pogende Garküche. Passend bewegt sich Sänger Schorsch Kamerun als magentafarbiger Harlekin gekleidet auf der Bühne: ein speedfressendes Huhn ist nichts dagegen. Mit Vorliebe besonders abgeschmackte Parolen, wie „Yeah!“ oder „The Beatles from Liverpool and the Goldies from Hamburg“ grienend, moderiert er die Songs an und erinnert an den großen Deklamierer Mark E. Smith. Hier gab Kameruns Arbeit am Theater sicher Hilfestellung. Die Songtexte sind verständlich, prononciert, auf Pointen gewichtet. „Und ein Weinen immerfort / Goldhaubenfrauen, Schützengardisten, Brauchtumsgruppen, Kavalleristen, der Bischof und die Burschenschaftler“, heißt es in dem an sich unsingbaren Text „Des Landeshauptmanns letzter Weg“. Die alten Feinde mögen den Zitronen abhanden gekommen sein, aber dennoch lässt sich antipoetisch über sie triftige Musik machen. Auch andere Gedankensplitter zerfließen im Festsaal zu Butter: „Ich bin Papi, das dümmste Krokodil“ oder „Mit 17 in der Lehre / mit 37 in Therapie“. Die Zitronen kennen sich in ihren Textwelten und Musiklandschaften sehr gut aus. Und diese Kenntnis überträgt sich aufs Publikum.

JULIAN WEBER