Das Versprechen der Berge

JÜDISCHER ALPINISMUS Die Ausstellung „Hast du meine Alpen gesehen?“, die jetzt von Hohenems nach Wien gewandert ist, handelt vom jüdischen Verlangen nach Heimat und der Arisierung der Alpen. Der Alpenverein stellt sich damit seiner ausgrenzenden Vergangenheit

In den Bergen bekräftigt sich die jüdische Heimatlosigkeit zugleich mit dem Verlangen nach „Heimat“

VON ISOLDE CHARIM

Diese Ausstellung ist keine Bebilderung von Altbekanntem, keine Bekräftigung von Stereotypen und Klischees. Das alleine wäre für einen Beitrag zu Fragen der jüdischen Identität schon beachtlich. Aber die Ausstellung „Hast du meine Alpen gesehen“ im Jüdischen Museum Wien geht weiter und stellt eine ganz eigene, eine gänzlich unerwartete Behauptung auf: Juden und Alpen, das sei keine absurde Verbindung. Juden und Alpen, das sei vielmehr eine wechselvolle Beziehungsgeschichte, eine „love story“, wie der Untertitel etwas emphatischer heißt.

Eine unerwartete Zusammenführung ist das, eine Verbindung von Gegensätzen – ganz so wie bei den unterschiedlichen Mitwirkenden an diesem Projekt: Die Ausstellung, eine Kooperation zwischen dem Jüdischen Museum Hohenems, in Gestalt seines Direktors Hanno Loewy, und dem Jüdischen Museum Wien, in Gestalt des Kurators Gerhard Milchram, entstand in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Alpenverein. Kurzum, diese Ausstellung ist eine Herausforderung. Herausgefordert wird etwa die gängige Definition von jüdischer Kultur und Identität. Es gibt eine gewisse Kongruenz zwischen jüdischem Selbstverständnis und antisemitischem Vorurteil in der Vorstellung, Juden seien urbane Wesen. „Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei“, heißt es bei Paul Celan.

Von antisemitischer Seite wird dieser Topos in denunzierender Absicht zu einem Ausschließungskriterium: Der Jude sei der Fremde, weil es ihm an Sinn für die Natur fehle. Dermaßen konnotiert wird Urbanität zum Ausdruck von physischer Schwäche. Die Nazis haben dies dann zum Verdikt gesteigert, Juden seien „Geschöpfe wider die Natur“. All diesen Vorstellungen, den affirmativen ebenso wie den denunzierenden, setzt diese Ausstellung ein ganz anderes Bild entgegen: das eines jüdischen Alpinismus. Und sie tritt an, dessen Geschichte zu rekonstruieren.

Sehnsucht nach Teilhabe

Natürlich kommt die klassische Sommerfrische vor. Das ist jene Prozedur, wo man mit Sack und Pack den ganzen Sommer über aufs Land zieht. Wir kennen alle die Bilder: Freud in Bad Aussee, Herzl am Fahrrad in Edlach. Würde die Ausstellung dabei stehen bleiben, wäre sie keine Behauptung. Denn diese Bilder sind wesentliche Versatzstücke unseres kulturellen Archivs, Inbegriff bürgerlicher Lebensformen. Die alpine Bergwelt wurde dabei zum Erholungsraum, zum Ort „erhabener Gefühle in sicherer Gediegenheit“, wie die Ausstellungsmacher schreiben. Sie aber zielen auf die Alpen jenseits solcher bürgerlichen Erlebnisse. Nicht Sommerfrische ist ihr Thema, sondern Alpinismus. Im Rampenlicht stehen hier die Alpen als „Gravitationszentrum Europas“ und eine „jüdische Sehnsucht danach, an dieser Energie und Erfahrung teilzuhaben“. Eine Sehnsucht, die Juden in Wien, Zürich oder München ebenso erfasst wie in Berlin. Diese Sehnsucht hat mehrere Komponenten.

Da geht es zum einen um die spirituelle Erfahrung in den Bergen. Diese sei, so die Kuratoren, dem Judentum von Beginn an eingeschrieben. Schließlich sei Moses der erste Bergsteiger gewesen und der Berg Sinai die Geburtsstätte des Judentums. Jenseits des Bonmots lieferte dieser religiöse Bezug zu den Bergen sogar den Titel der Ausstellung. Der Rabbiner Raphael Hirsch, ein begeisterter Bergsteiger, sagte vor einer Bergtour: „Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige mich fragen: ‚Hast du meine Alpen gesehen?‘.“

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Alpen aber nicht nur zum Sehnsuchtsort für spirituelle Erfahrungen, sondern auch für Freiheitserlebnisse. Auch das Judentum wurde vom Zeitgeist mit seinen Reformbewegungen, der neuen Körper-, Gesundheits- und Naturkultur erfasst. Davon erzählt die Geschichte des Wiener jüdischen Sportklubs „Hakoah“ ebenso wie die zionistische Bewegung, die an dieses neue Menschenbild anschließt.

Aber der wirklich zentrale Punkt, die wahre Triebfeder des jüdischen Alpinismus ist die tiefe Sehnsucht der Juden nach Teilhabe, nach Zugehörigkeit. Das Bergsteigen wird, wie die Ausstellung anschaulich macht, zum bevorzugten Medium der Integration. Denn es bietet einen doppelten, widersprüchlichen Effekt: Es verspricht eine Erfahrung, die zugleich existentiell und integrierend ist. Existentiell ist das Erlebnis des Individuums alleine im Angesicht der spektakulärsten Natur. Und gleichzeitig soll es gerade durch dieses Erlebnis „eingemeindet“, Teil der Gesellschaft werden. In den Bergen bekräftigt sich die jüdische Heimatlosigkeit zugleich mit dem Verlangen nach „Heimat“. Die Gleichung, die die Ausstellung aufstellt, ist eine paradoxe: Jüdischer Alpinismus bedeutet Universalismus und Assimilation. Gleichzeitig.

Wie stark dieser Wunsch nach Zugehörigkeit war, zeigt sich an der Kleidung. Die Schau zeigt zahlreiche Bilder von Juden in Trachten und Dirndlkleidern. Eines der skurrilsten Exponate ist eine Kippa bestickt mit Edelweiß, Enzian und Alpenrausch. Die Trachten bleiben eine Verkleidung. Man spielte darin Landleben und „fühlte sich durch und durch heimisch“. Man versuchte damit, sich einen Platz als Einheimischer zu schaffen.

Heute, im Wissen darum, wie das Ganze ausgegangen ist, betrachtet man diese verzweifelten Versuche mit großer Beklemmung. Und gerade angesichts heutiger Debatten um Kleiderordnungen zeigen die enttäuschten Hoffnungen der Juden in Lederhosen, dass Assimilation nicht der richtige Weg der Integration ist. Wie ein Kommentar dazu wirken die zahlreichen zeitgenössischen Fotografien in der Ausstellung, die orthodoxe Juden in ihrer Tracht in den Schweizer Bergen zeigen. Die schwarz gekleideten Gestalten bleiben darin Fremdkörper. Aber nur deshalb, weil wir alle genaue Vorstellungen haben, welche kulturellen Zeichen zur Bergwelt gehören.

Vorgabe Lederhose

Hier erfahren wir nochmals anschaulich, wie sehr diese unsere Vorstellungen von den Nazis geprägt sind: 1938 erlassen sie ein Trachtenverbot für Juden. Das heißt, sie legen fest, wer das Recht hat, sich als alpenländisch zu identifizieren, und wer nicht. Und sie geben vor, wie diese Identifizierung auszusehen hat. Sie hat Lederhosen an. Die Kuratoren versuchen, hier einen dritten Blick zu eröffnen. Jenseits von affirmativem Heimatblick und von kritischem Blick, der hier nur Faschismus und nationalistische Heimattümelei sieht, wollen sie auf die entnationalisierte, entethnisierte Erfahrung der Berge blicken. Es geht also gewissermaßen um eine Rückgewinnung der Alpen.

Die Alpen waren (und sind) der Kampfplatz, an dem Heimat und Zugehörigkeit verhandelt und entschieden wurde. Und die Ausstellung zeigt, wie die Juden diese Auseinandersetzung mit voller Leidenschaft führten – und wie sie sie verloren haben. Symptomatisch dafür ist die Geschichte der Alpenvereine. Diese weisen Anfang des Jahrhunderts zahlreiche jüdische Bergsteiger auf, die teilweise alpinistische Pionierarbeit geleistet haben. Rund ein Drittel der Mitglieder der Wiener Alpenvereinssektion waren Juden.

Ja, ein Jude, der Geologe Eduard Sueß, war sogar Mitbegründer des österreichischen Alpenvereins – unvorstellbar aus heutiger Perspektive, wo diese Institution als Inbegriff der Heimattümelei gilt. Dieses Image ist kein Zufall. Bereits 1921 hat der Alpenverein einen Arierparagrafen eingeführt, der alle jüdischen Mitglieder ausschloss. Eine bis dato unaufgearbeitete Geschichte. Umso erfreulicher ist die Mitarbeit des österreichischen Alpenvereins an der Ausstellung sowie deren nächste Station: das Museum des Deutschen Alpenvereins in München.

Mit dieser Erzählung ist die Schau nicht nur eine Herausforderung für das jüdische, sondern mindestens ebenso sehr für das österreichische, das bayerische und das Schweizer Selbstverständnis. Sie zeigt eine „Arisierung der Alpen“, die sich als kulturelle Zuschreibung bis heute fortsetzt. Und sie versucht – das ist wohl ihr spannendstes Moment – dem gegenzusteuern. Durch die Erinnerung an einst namhafte jüdische Alpinisten, aber mehr noch durch die Rekonstruktion der Anfänge des Skifahrens und des Skitourismus.

Die Kuratoren haben die völlig verschüttete Geschichte von Rudolf Gomperz ausgegraben, eines Juden, der den Skilauf als modernen Sport ebenso wie den Skitourismus mitbegründet hat. Man muss sich das ganze Ausmaß dieses Unternehmens vor Augen halten: Hier wird ins Kernstück der österreichischen, der alpenländischen Identität eine jüdische Geschichte eingeschrieben! Das heilige Skifahren, der umfassende Skitourismus, das identitätsstiftende Moment des Alpenländischen schlechthin, wurde von Juden mitbegründet, miterfunden.

Vielleicht muss man in einem Alpenland leben, um zu verstehen, was dieses Vorgehen ist: Es ist zutiefst subversiv. Was für eine Ausstellung!

■ Bis 14. März, Jüdisches Museum Wien, Katalog (Bucher Verlag) 29,90 €Ľ■ Alpines Museum München, 22. April bis 20. Februar 2011