Das Buch im Innern

Unser Stellvertreter Jochen Schmidt liest das Autorenhochgebirge Marcel Proust – ein Bericht über die Macht der Literatur

VON DIRK KNIPPHALS

Etwas über das Lesen zu lesen ist ziemlich angesagt. So hat der Erfolg von Carlos Ruiz Zafón damit zu tun, dass er geschickt die Bedeutung von Literatur aufzuladen versteht. Alan Bennetts „Die souveräne Leserin“ – eine Fantasie über die Macht der Literatur – ist ein großer Renner. Und in Cornelia Funkes „Tintenherz“-Reihe kann, wer nur gut vorzulesen versteht, Paralleluniversen real werden lassen. Der Leser ist der heimliche Held all dieser Geschichten.

„Schmidt liest Proust“ nun ist das Gegenbuch zu solchen Fantasien. Ein halbes Jahr lang, vom 20. Juli 2006 bis zum 27. Januar 2007, hat Jochen Schmidt täglich zwanzig Seiten von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen, in der DDR-Ausgabe von Rütten & Loening, die bei seinen Eltern im Bücherregal stand. In einem Blog hat er täglich seine Lektüreeindrücke protokolliert. Parallel dazu hat Jochen Schmidt, 1970 geboren, Tagebuch geführt. Dieser Blog liegt nun, sorgfältig überarbeitet, als ziegelsteindickes Buch vor. Auf den ersten Blick hat das alles etwas von einer Schnapsidee. Sobald man sich aber in diese Aufzeichnungen vertieft, merkt man, dass ihnen etwas Heroisches anhaftet – nur dass es hier keineswegs um Fantasien vom Lesen, sondern um dessen Realität geht.

Jochen Schmidt bewegt sich in der Berliner Lesebühnenszene. Dort ist es geradezu Ehrensache, keine auratische Literaturverehrung zu betreiben, sondern sie – im Zweifel entschlossen hedonistisch – auf ihren Nutzwert abzuklopfen. Genau so hält es Jochen Schmidt. Frotzelnd registriert er die Überspanntheiten Prousts, staunend beschreibt er die Einsichten, die man aus seiner funkelnden Bewusstseins- und Salonwelt gewinnen kann – über die Kompliziertheiten des Lustempfindens etwa, die gesteigerten Höllen der Eifersucht und die Brutalität der feinen Unterschiede in einer Gesellschaft, in der sich Adelige und Aufsteiger begegnen.

Schmidt unterzieht Proust einem verschärften Gegenwartstest. Dass ihn sein eigenes Leseprojekt gelegentlich nervt, verschweigt er keineswegs. Aber immer wieder stößt man auf tolle Stellen, an denen sich die Wahrnehmungen des eigenen Schmidt-Alltags und der fernen Proust-Welt miteinander verschränken. „Schmidt liest Proust“ berichtet in aller Komik und Lakonik, Konkretheit und Genauigkeit davon. Die Höhenflüge des Lesens kontrastiert Schmidt hart mit den alltäglichen Umständen, etwa indem er mit Proust „das Lesen des Buchs in unserem Innern“ als einen „Schöpfungsakt“ bezeichnet und gleich darauf notiert: „Meine Mutter rief an und wollte wissen, wo ich im August sein werde“. Der Tod der Großmutter bei Proust beschäftigt ihn ebenso intensiv wie die Fehlleistungen seiner eigenen Tochter im Kindergartenalter.

Man darf feststellen, dass Proust diesen Test mit Bravour besteht. Mehr noch: Es ist keineswegs so, dass nur Schmidt Proust liest. Von Harold Bloom stammt die Sentenz: Nicht wir lesen Shakespeare, sondern Shakespeare liest uns. Dass das mehr als ein flotter Spruch sein kann, lässt sich bei Jochen Schmidt erfahren. Denn Proust liest auch Schmidt. Beziehungsweise Schmidt lässt sich von ihm lesen. In dem Sinne, dass er sein eigenes Leben sich in der neurotisch hoch gespannten Wahrnehmungs-, Analyse- und Gefühlsdarstellungsfähigkeit Marcels Prousts spiegeln lässt. Und damit beginnt das eigentliche Leseabenteuer, denn damit wird die Lektüre zum Kampf.

Heutige Maßnahmen zur Leseförderung streichen gern das Warme, Wohlige, Bergende heraus, das Lektüre annehmen kann. Aber Proust bei Schmidt, das ist auch: ein überlebensgroßes Empfindungsmonster; der Riese, den wir nie erreichen; der Fels, an dem wir zerschellen. An einer Stelle stellt Schmidt fest, „dass ich emotional keinen Schritt weiter bin als Proust, und das fast hundert Jahre nach seinem Tod“. An einer anderen Stelle fragt er sich, ob die intensive Liebesgeschichte, die er parallel erlebt und die aus den Aufzeichnungen hindurchscheint, „am Buch lag“. An ebensolchen Stellen erfährt man etwas über die Realität, die hinter den so gängigen Fantasievorstellungen von der Macht der Literatur liegt.

„Es ist eine stolze Lebensleistung, die ‚Recherche‘ geschafft zu haben, nicht weil sie so lang ist, sondern weil man, um sie zu lesen, seine Seele stimmen muss wie ein Instrument. Man könnte sagen, dass man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren.“ Nachdem man das Buch gelesen hat, nimmt man diesen Schlussabsatz des Vorwortes sehr ernst, über den man zunächst schmunzeln musste.

Sich selbst in einem Buch wiederzufinden ist aber auch etwas, was man erst einmal aushalten muss. Irgendwann heißt es bei Schmidt: „Was macht man, wenn man einsehen muss, dass man in der Skala seiner Empfindungen und in der Struktur, die man der Selbsterzählung des eigenen Lebens täglich gibt, unbewusst immer eine tapsige und inkonsequente Version von Proust war?“

Ja, was macht man dann? Würde man sich als lesender Held in einem Roman befinden, könnte man sich in einer glücklichen Wendung – wie durch Zauberhand – doch noch als ein ebenbürtiger Selbsterzähler erweisen. Aber in der Wirklichkeit? Da lebt und liest man einfach weiter. Und wenn man Glück hat , tut man das dann immerhin ein bisschen bewusster als zuvor.

Jedenfalls legt man selbst als Leser Jochen Schmidts Buch nach der Lektüre beschwingt weg. Man hat viel gelernt, über unseren Stellvertreter Jochen Schmidt, das Autorenhochgebirge Marcel Proust und über das Lesen. Und man nimmt sich unbedingt vor, bald mal wieder selbst in die „Suche nach der verlorenen Zeit“ zu schauen (hat aber heimlich auch ein wenig Angst davor).

Jochen Schmidt: „Schmidt liest Proust“. Voland & Quist, Dresden, Leipzig 2008, 608 Seiten, 19,90 Euro