Im Keller der Musikgeschichte

Die Oper „Marie Victoire“ des fast vergessenen italienischen Komponisten Ottorino Respighi ist an der Deutschen Oper zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum aufgeführt worden. Das Stück ist so gut, dass es ins Repertoire gehört

Das Urteil der Geschichte ist nicht immer gerecht. Es hat den Musiker Ottorino Respighi in die Fußnoten verbannt, wo er immer nur im Zusammenhang einer Strömung genannt wird, die um 1900 in Italien nach Alternativen zu dem mit den Namen Wagner und Puccini verbundenen Mainstream suchte – in der Oper ebenso wie in der Orchester- und Kammermusik.

Malipiero und Casella sind die bekanntesten Vertreter. Sie gelten heute als Begründer der italienischen Moderne und zugleich als Wegbereiter für die Wiederentdeckung des Barock. Auch Respighi fand in der Musik des 17. Jahrhunderts Anknüpfungspunkte für eine neue, vom Überschwang des psychologischen Naturalismus befreite, sachlichere Musiksprache.

Laienorchester spielen noch heute gelegentlich seine Suiten „Antiche danze ed arie“ nach Lautentabulaturen der Renaissance, weil sie dort die bei ihnen so beliebte Barockmusik in einer gefällig modernen, leicht nachspielbaren Art wiederfinden. Aber Respighi konnte sehr viel mehr als das. Er hatte nur Künstlerpech. Seine große Oper „Marie Victoire“ sollte 1915 in Rom uraufgeführt werden. Die Wirren des Ersten Weltkriegs und wohl auch persönliche Animositäten verhinderten eine Aufführung, und das Werk verschwand in der Schublade, bis es 2004 in Rom endlich doch noch auf die Bühne kam.

Auch an der Deutschen Oper ist es jetzt zum ersten Mal zu hören, und man wundert sich, warum es nicht schon längst einen festen Platz im Repertoire hat. Die Auswahl ist bekanntlich nicht groß, und „Marie Victoire“ kann es gut mit Strauß, den Russen, und vielleicht sogar mit Debussy aufnehmen – natürlich nicht mit Wagner oder Puccini, denn es ist die mit Vehemenz vorgetragene, massive Gegenthese gegen diese Art der Einfühlungsmusik.

Wir befinden uns mitten in der Französischen Revolution. Ein kurzer, symphonischer Auftakt reißt im Orchester einen dramatischen Horizont auf, doch scheinbares Pathos bricht mitten im Wort ab und macht einem kleinen Solo für Cembalo Platz, virtuos im Stil eines Couperin komponiert. Dann singt die Gräfin Marie de Lanjallay ein echtes Zitat aus jener Zeit, das Lied „Il pleut, bergère“, und muss weinen dazu, weil Marie Antoinette es auch gesungen hat, bevor sie auf das Schafott kam. Landidylle des Ancien Régime, doch Respighi gibt kein Pardon und lässt die Sansculotten mit ihrem „Ça ira…“ hineinkrachen, nicht nur in die Szene, sondern auch in die Partitur. So geht es immer weiter, originale Musik von Jean-Jacques Rousseau, die Marseillaise, dann klingt es (ironisch) nach Puccini, nach Rimski-Korsakow und – sehr oft – nach Debussy, den Respighi sehr verehrt hat.

„Eklektizismus“ hat man ihm vorgeworfen, zweifellos zu Recht, nur ist das heute kein Vorwurf mehr. Prototypische Postmoderne ist zu hören und zu bewundern, weil Respighi seine disparaten Stilmittel so souverän beherrscht, dass daraus ein sehr unterhaltsames, abwechslungsreiches Sittengemälde politischer und privater Katastrophen entsteht. Johannes Schaaf, der vom Film kommt, begnügt sich damit, die Story nachzuerzählen, Susanne Thomasberger hat ihm dazu naturalistische Ruinen von Adelspalästen auf die Bühne gestellt. In der Premiere ist er dafür ausgebuht worden, und vielleicht sollte man tatsächlich mehr tun, um zu zeigen, welches musikalische Juwel da beinahe vergessen worden ist.

Aber fürs Erste ist es in Ordnung, vor allem weil diese unprätentiöse Art der Inszenierung den Sängern Raum gibt, die in der Deutschen Oper allesamt ausgezeichnet sind. Allen voran die Afroamerikanerin Takesha Meshé Zikart als Marie, die mit in jazzige Tiefen hinabreichender Stimme so viel persönliche Ausstrahlung mitbringt, dass sie einen Mangel ausgleicht, an dem dieses Werk nun mal leidet: Es gibt keine wirklich überzeugenden, abendfüllenden Charaktere. Das liegt zum einen am reichlich trivialen Historiendrama von Edmond Guiraud, das Respighi als Libretto benutzt hat, zum anderen aber auch an seiner beharrlichen Weigerung, den Gefühlen seiner Spielfiguren freien Lauf zu lassen. Überaus singbare Melodien fließen ihm so leicht aus der Feder, dass er sie – vornehmer Großbürger und geschmackssicherer Klavierlehrer, der er auch war – sofort zurücknimmt und mit mindestens einem stilistischen Kontrapunkt unterläuft. Wer in der Oper unbedingt weinen möchte, sitzt bei Respighi im falschen Film. Alle anderen aber sollten der viel gescholtenen Intendantin Kirsten Harms dankbar sein für diesen Fund im Keller der Musikgeschichte. NIKLAUS HABLÜTZEL

Nächste Aufführungen: 16., 19., 22., 24. April. Eine Aufzeichnung der Premiere ist heute im Deutschlandradio Kultur um 19.05 Uhr zu hören