„Wer weiß schon alles über sich?“

SELBSTPORTRÄT Ein persönliches Gespräch mit Agnès Varda, der Grande Dame des französischen Films

■ geb. am 30. Mai 1928 in Brüssel, wuchs in der provenzalischen Hafenstadt Sète auf. Nach ihrem Studium in Paris war sie zunächst als Fotografin tätig, 1954 drehte sie ihren ersten Spielfilm „La Pointe Courte“. 1961 erschien der Film „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“, der bereits der Nouvelle Vague zugerechnet wird. 1962 heiratete sie den Regisseur Jacques Demy, mit dem sie bis zu seinem Tod im Oktober 1990 zusammenblieb. Varda, von Kritikern oft „Großmutter der Nouvelle Vague“ genannt, schuf ihren eigenen Stil der „cinécriture“ – ein filmisches Schreiben, das Begegnungen, Koinzidenzen, Wünsche mitberücksichtigt und sich an den Erfahrungen des Lebens orientiert. Ein sehr persönliches, aber auch politisch hellhöriges Werk zwischen dokumentarischem Realismus und poetischer Fiktion. Foto: J-P Pelissier/reuters

INTERVIEW DOMINIK KAMALZADEH

taz: Frau Varda, Ihr neuer Film „Die Strände von Agnès“ ist eine sehr persönliche Arbeit über Ihr Leben und Ihre Arbeit als Fotografin und Filmemacherin. Würde man nach einem Begriff suchen, fielen einem Erinnerungsbuch, Autobiografie, Biopic ein. Wie bezeichnen Sie den Film?

Agnes Varda: Offiziell handelt es sich um einen Dokumentarfilm, aber das stimmt natürlich nicht ganz. Es handelt sich um einen Film zwischen den Gattungen, zwischen Dokumentarfilm und Tagtraum. Ich mache es schon in der ersten Sequenz in Belgien ganz klar: Ich installiere Spiegel auf den Stränden, an denen ich bis in die 1940er-Jahre mit meiner Familie oft war. Man sieht die Spiegel und mich, mit dem Schal im Wind. Aber ich betrachte nicht mich darin, sondern zeige stattdessen die Wellen, den Sand, die Studenten, die mir bei der Arbeit halfen. Damit schaffe ich die Regeln für das Spiel: Natürlich ist vieles davon autobiografisch, aber der Film ist mehr als ein Selbstporträt. Man benötigt ein Dispositiv, eine filmische Herausforderung. Die Frage war, wie man Erinnerung sichtbar machen kann.

Darauf finden Sie sehr viele Antworten. Die Zeiten überlagern sich ständig. Ihr Kino findet seinen Ursprung in eigenen Erfahrungen, weitet sich aber auch ins Allgemeine, Politische aus. Wollten Sie auch Einflüsse aufzeigen?

Es ging mir darum, etwas zu sagen, ohne zu viel zu sagen. Darum, die große Geschichte vage hinter meiner eigenen, kleinen Geschichte durchscheinen zu lassen. Der Film ist auch eine Übung über das Kino an sich. Der Krieg, die Verfolgung der Juden, die Black Panthers, die chinesische Revolution, Castro, Che und alle diese Fragen um die Befreiung der Frauen: Ich war mittendrin, die kleine Agnès. Gewiss, heute erscheint das alles normal, da es Allgemeingut wurde. Doch damals war das anders. Ich bin ständig auf Dinge gestoßen, die ich nicht verstehen konnte. Ich wusste lange nicht, was Männer und Frauen miteinander tun. Ich wusste nichts.

Ihre Reise durchs eigene Leben entwickelt sich dementsprechend sprunghaft und assoziativ – meistens entlang von Zufällen.

Natürlich, aber das Leben ist auch keine Linie. Die Koinzidenzen kamen, und natürlich muss man sie auch wahrnehmen.

Wie hat sich diese Bewegung dann ergeben?

Es ist wie ein Puzzle, denn man ist sich auch selbst ein Puzzle. Wer weiß schon alles über sich? Man kennt immer nur Teile, manche davon passen, andere gar nicht. Und wir sind voller Widersprüche. Wir wollen etwas und dann wieder nicht. Solche Widersprüche finden sich auch zwischen Realität und Einbildung. Es gibt etwa den Widerspruch zwischen dem Umstand, ein Kind zu bekommen, und „L’Opéra-Mouffe“ zu drehen, einen kurzen Film über die Desaster des Lebens. Und dementsprechend leben wir: Wir wollen das Elend bekämpfen, aber wer ist schon bereit, zwei Fremden ein Bett für eine Nacht zu gewähren.

Ihr Regiekollege Jean-Luc Godard hat einmal gesagt, dass Bewegungen immer dann entstehen, wenn sich zwei oder drei Leute treffen und miteinander sprechen. Ist das nicht auch in Ihrem Leben mehrmals passiert, wenn man zum Beispiel an die Pariser Rive-Gauche-Bewegung denkt, mit der Sie ja verbunden waren?

Man braucht auch Glück. Beispielsweise als ich als junge Frau in Sète diese drei Schwestern traf, die wie aus dem Stück von Tschechow wirkten. Die älteste heiratete den Theaterschauspieler und -regisseur Jean Vilar. Ich machte Fotos von ihm und den Kindern, dann gründete er das Festival von Avignon, und er fragte mich, ob ich kommen und helfen wollte. So wurde ich 1950 zur Fotografin des Festivals. Die zweite brachte mir die Natur nahe, und die dritte ging mit mir auf die Schule. Sie war eine gute Freundin, die mich den Fischern vorstellte – etwas, was mich zu meinem ersten Film, „La Pointe Courte“, inspiriert hat. Diese drei Schwestern haben mein Leben verändert.

In „Die Strände von Agnès“ gibt es ständig Bilder, die aus der Gegenwart in die Vergangenheit führen. Sie machen das auch über das Rückwärtsgehen anschaulich. Fiel es Ihnen nicht schwer, so viele Orte aufzusuchen, die mit Erinnerungen beladen sind?

„Der Krieg, die Verfolgung der Juden, die Black Panthers, die chinesische Revolution, Castro, Che und alle diese Fragen um die Befreiung der Frauen: Ich war immer mittendrin, die kleine Agnès“

Nein, das war keine Anstrengung, sondern bereitete mir großes Vergnügen. Das Wichtigste ist, die Erinnerung in die Gegenwart zu holen. Am Ende sage ich einmal: Ich erinnere mich, während ich lebe. Das ist der Schlüssel. Ich bin am Leben. Ich erinnere mich. Ich muss die Vergangenheit also in mein Leben überführen. Wie in der Passage mit dem Boot zu Beginn des Films, wo ich durch den Hafen von Sète fahre und schließlich in der Gegenwart von Paris ankomme. Ich musste auch das Filmemachen auf diese Weise integrieren.

Wie wichtig war es für Sie, selbst aufzutreten – als eine Art Fremdenführer durch das eigene Leben?

Ich ziehe mir einfach gerne ein Kostüm über, weil ich es mag, wenn die Leute über mich lachen. Ich glaube auch, dass ich ein guter Clown bin. Zudem gibt es Momente, in denen ich sehr feinfühlig werden muss: Wenn ich über Jacques Demys Tod spreche. Ich zeige sein Haar aus großer Nähe, es sieht wie eine Landschaft aus. Das ist ein sehr schönes Bild, doch es geht natürlich auch darum, etwas auszudrücken, das beim Betrachter etwas bewirken kann. Die Toten sind immer um mich herum. Ich hatte nie Schwierigkeiten, über die Vergangenheit zu sprechen.

Der Philosoph und Zeichentheoretiker Roland Barthes hat vom Punctum des Bildes geschrieben, von Details, in denen sich das Bild schockartig preisgibt. Haben Sie auch nach solchen Merkmalen gesucht?

Barthes ist da sehr theoretisch. Ich habe früher manchmal nach dem Punctum gesucht, weil ich so schlau wie Barthes sein wollte: Ein kleines Kind mit einer Kette – da ist das Punctum! Aber das war nicht wahr. Denn die Bilder sind, wie das Leben auch, sehr komplex. Man kann sich in vielen Details eines Bildes verlieren, sie entdecken – und sie gehören alle zusammen, weil sie das Leben des Bildes festhalten. Ich bin jedoch immer wieder auf meine fotografischen Anfänge zurückgekommen: Ich habe all diese Porträts angefertigt, die man im Film sehen kann.

Hat sich durch die Verwendung von Video viel an Ihrer Arbeit verändert?

Es gibt diese eine Kamera, die ich nur verwende, wenn ich allein bin. In „Les Glaneurs et la Glaneuse“ gibt es diese Szenen, in denen ich die Postkarten filme und daraufhin meine Hände – das passierte per Zufall. Meine eigene Haut wurde zur Karte. Das geht nur mit Video. Es ist, wie zu sagen: Ich bin am Leben, während ich filme.

Wie haben Sie die Puzzleteile beim Schnitt geordnet? Gab es einen genauen Plan?

Aktueller Film: „Die Strände von Agnès“, Agnès Vardas aktueller autobiografischer Filmessay, ist im Rahmen der Französischen Filmwoche zu sehen, die vom 2. bis zum 8. Juli in Berlin stattfindet (www.franzoesische-filmwoche.de). Der reguläre Filmstart ist für den 10. September geplant.

Die Filmwoche gewährt Einblick ins reichhaltige Filmschaffen Frankreichs; zu den Höhepunkten zählen neben „Die Strände von Agnès“ Arnaud Desplechins hinreißender Familienfilm „Un conte de Noël“ (Eine Weihnachtsgeschichte) mit Mathieu Amalric und Catherine Deneuve sowie Sophie Filières Stalker-Komödie „Un chat und chat“ (Eine Katze eine Katze) mit Chiara Mastroianni.

Die Auswahl ist leider ein wenig Arthouse-lastig. Wichtige Filme von Autorenfilmern fehlen, etwa Philippe Garrels „La frontière de l’aube“ (Die Grenze der Dämmerung) oder Bertrand Bonellos „De la guerre“ (Vom Krieg). CN

Ich hatte einen Plan, gewiss. Denn der Schnitt war eine große Sache. Ich musste eine sehr filigrane cinécriture finden, einen filmischen Text, in dem alles kohärent bleiben würde, sodass man mir auf meinen Umwegen folgen kann. Die sind schließlich interessanter als die Linien. Alain Resnais, der den Schnitt von „La Pointe Courte“ machte, lehrte mich einmal, dass man nichts ändern sollte. Er sagte, man kann nichts besser, man kann es nur richtig machen. Ich war ihm dafür sehr dankbar. Ich habe viele Menschen getroffen, die mir dabei geholfen haben, ich selbst zu werden.

Wie Chris Marker, der nur als Katze Guillaume-en-Egypte im Film zu sehen ist.

Er wollte als Person nicht vorkommen.

Wer hatte dann die Idee, ihn als Katze zu zeigen?

Das war meine Idee. Aber ich musste um Erlaubnis fragen, seine Katze benützen zu dürfen.