Der Nomade an der Schreibmaschine

JAHRESTAGE Vor 50 Jahren erschien sein erster Roman „Mutmaßungen über Jakob“, vor 75 Jahren wurde er geboren: Uwe Johnson ist heute der modernste Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur

Eine Uwe Johnson Woche veranstaltet ab kommenden Montag das Literaturhaus Uwe Johnson in Klütz, am Dienstag, 21. 7., findet etwa ein biografischer Spaziergang durch Uwe Johnsons Güstrow statt. Infos: www.literaturhaus-uwe-johnson.de

Ein Hörbuch ist soeben zu Johnsons Roman „Das dritte Buch über Achim“ erschienen, es lesen Dietmar Mues, Anne Weber, Ulrich Noethen u. v. a. Hörverlag, 2 CDs, 19,95 €

Ein Faksimile der Erstausgabe von „Mutmaßungen über Jakob“ brachte kürzlich Johnsons Hausverlag Suhrkamp in der Originalausstattung heraus, 307 S., 15 €

VON DANIEL SCHREIBER

Ein Satz mit unendlichem Identifikationspotenzial. „Wo ich her bin, das gibt es nicht mehr“, heißt eine der berühmtesten Zeilen von Uwe Johnson. Was bleibe, schreibt er weiter, sei nur die „äußere Kruste des Gewesenen“. Geschrieben zu Beginn der Siebzigerjahre, hat dieser Satz das Zeug, zum Mantra für eine Generation von deutschen Autoren zu werden, die in etwa im Zeitraum seiner Entstehung geboren wurden.

Autoren, die heute schreiben, sind in einer Zeit groß geworden, in der sich die Mentalitäten, die Landschaften und die politischen Systeme um sie herum schneller gewandelt haben, als sie altern konnten. Ob sie sich wie Claudia Rusch mit Teewurststullen im leichten Gepäck rückbesinnend auf den Weg nach Zinnowitz und Zwickau machen, wie Maxim Biller „die coole Bundesrepublik“ betrauern, die vom „ostdeutschen Bolschewismus“ und einer Kanzlerin verseucht wurde, die mal FDJ-Sekretärin war, oder ob sie wie Antje Rávic Strubel ihr Heil gleich ganz im Ausland, die Heimat in der „Demokratie“ von Joan Didion suchen. Drei willkürlich gewählte, nicht repräsentante Beispiele. Trotzdem stecken sie die Eckpunkte der mentalen Geografie dieser Jahre ab.

Johnson trat vor genau 50 Jahren mit seinem Roman „Mutmaßungen über Jakob“ auf die literarische Bildfläche, in dem er den Tod des mecklenburgischen Reichsbahnmitarbeiters Jakob Abs beschrieb, der für die Stasi seine nach Westdeutschland geflohene Freundin dazu bringen sollte, als DDR-Spionin zu arbeiten. Die deutsche Literatur hatte so etwas noch nie gesehen: Zahlreiche Stimmen flossen im Text ineinander über und blieben trotzdem markant. Sie bildeten eine zusammengesetzte Wirklichkeit aus Sprechweisen, Mundarten, persönlichen Geschichten und Identitäten, die man am ehesten aus dem Werk William Faulkners zu kennen schien und die ein Mehr an Welthaftigkeit durch ein Weniger an üblicher Schriftgrammatik und Linearität erreichte. Johnson war gerade einmal 25 Jahre alt.

Die Literaturgeschichtsschreibung will es, dass er ein Teil jener Generation von Giganten darstellt, die damals den Staffelstab von der kurz zuvor verstorbenen Gigantengeneration um Mann, Brecht und Döblin übernahm. Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“ und „Die Blechtrommel“ von Günter Grass erschienen im selben Bücherherbst von 1959. Dabei wirkt Johnsons Werk, obwohl so stark in seiner Zeit verwurzelt, heute frischer, zeitgenössischer und riskanter als das seiner damaligen Kollegen. Es zirkelt den Verlust seiner Heimat und der eigenen Geschichte ein und die damit verbundene Aufgabe, trotzdem weiterzumachen, mit dem Verlust umzugehen und etwas Neues darauf aufzubauen. Ein Schreiben, das für heute relevanter sein könnte, lässt sich kaum vorstellen.

Wie Gesine Cresspahl, die Heldin aus seinem zwischen 1971 und 1983 erschienenen, vierbändigen Hauptwerk „Die Jahrestage“, war Johnson ein archetypischer Nomade. Im Nachkriegsdeutschland war das eine exotische Figur, weder war er Exilant noch jemand, der nach seinem Weggang aus der DDR irgendwo wieder heimisch wurde. Berühmt ist seine Weigerung, sich als Auswanderer zu bezeichnen – die Rolle, die der westdeutsche Kulturbetrieb der 1960er- und 1970er-Jahre für ihn vorgesehen hatte. Das, woher er hätte auswandern können, war für ihn nicht mehr existent, und das Wohin war kein Zufluchtsort, sondern eine Abfolge von Stationen.

Als „Dichter beider Deutschland“ erlebt er eine Renaissance. Ein Etikett, mit dem man ihn jagen konnte

Uwe Johnson wurde 1934 im pommerschen Cammin im heutigen Polen geboren. Im Ausklang des Zweiten Weltkriegs flieht seine Familie nach Mecklenburg und lässt sich in der Kleinstadt Güstrow nieder. Der Vater stirbt in einem sowjetischen Arbeitslager, während der Sohn damit beginnt, Germanistik an der Universität Rostock zu studieren, um Verlagslektor zu werden. Schon 1953 wird er aus politischen Gründen exmatrikuliert, darf aber sein Studium ein paar Jahre später in Leipzig zu Ende führen. Dem ersten Romanmanuskript „Ingrid Babendererde“ wird vom Aufbau Verlag bescheinigt, dass sein Autor eine Gehirnwäsche benötige, aber auch von Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld als Adoleszentenliteratur abgelehnt. Auf das Studium folgen einige Jahre Arbeitslosigkeit.

Erst der zweite Wurf sollte sein großer sein und Gefallen beim Suhrkamp Verlag finden. Johnson ist klar, dass es nach der Veröffentlichung der „Mutmaßungen“ nicht mehr für ihn möglich sein würde, in der DDR zu leben. Im Juli 1959 steigt er in eine S-Bahn Richtung Westberlin. Zwischen 1966 und 1968 lebt er in New York, wo seine „Jahrestage“ spielen, und 1974 schließlich zieht er sich auf die kleine südenglische Themse-Insel Sheerness-on-Sea zurück. Seine letzten Lebensjahre sind geprägt von Alkoholismus und einer massiven Schreibblockade. Fast alle seiner lebenslangen Freundschaften zu Kollegen wie Martin Walser, Wolfgang Koeppen oder Günter Grass gehen in die Brüche; seine Ehe endet in einem Zerwürfnis und dem paranoiden Vorwurf, seine Frau sei eine Mitarbeiterin des tschechischen Geheimdienstes.

Johnsons Nomadentum ging so weit, dass er erzählte, er habe den letzten Teil der „Jahrestage“ auf Englisch geschrieben. In ebendieser Sprache schrieb er 1971 auch einen Nachruf auf sich selbst, in dem er passend zu den damals modischen „Tod des Autors“-Theorien nahelegte, dass nicht er es gewesen sei, der seine Werke verfasst hätte. Aber wer sonst? Wer sonst hätte der deutschen Literatur Gesine Cresspahl schenken können?

Wer sonst, wenn nicht jemand mit tiefer Sehnsucht nach einer verlorengegangenen Heimat, hätte vor seinem inneren Ohr die vielen Stimmen des Landstrichs zwischen Ostsee und Seenplatte wieder auferstehen lassen können? Wer sonst hätte sich auf sozialkritische Wanderungen durch New York auf der Höhe des Vietnamkriegs begeben können, wenn nicht jemand, der lange an einen „humanen Sozialismus“ geglaubt hatte? Wer sonst hätte die deutsche Geschichte zwischen Weimar, Auschwitz, Flucht, Besatzung und Teilung so erschütternd lebensnah darstellen können, wenn nicht jemand, dessen Schreibvorteil darin bestand, sich vor den Lebenslügen seiner Zeitgenossen in Sicherheit gebracht zu haben? Wer sonst, wenn nicht jemand, der Distanz zu seiner Welt herstellte, um sie tiefer durchdringen zu können.

Der französische Kulturtheoretiker Nicolas Bourriaud rief kürzlich in seinem Bändchen „Radikant“ die neue Ära der Altermoderne aus: eine Zeit, die sich auf den radikalen Gestus des Neubeginns in der Moderne besinnt und das Ende der naiven Globalisierungs-Attitüde der Postmoderne besiegelt. Denn die habe, so Bourriaud, kulturelle und nationale Identitäten in einen Tierpark imaginärer Gemeinplätze verwandelt, wo Unterschiede hochgehalten werden, um trotzdem überall dieselbe Coca-Cola zu verkaufen. Die Altermoderne werde laut Bourriaud von Künstlern bestimmt, die nomadisch und prekär an fremden Orten leben und es durch diese Perspektive schaffen, ihrer Geschichte und ihrer Herkunft Tiefe zu verleihen, den neoliberalen Vermarktungsstrategien entgegenzutreten und zwischen den verschiedenen Kulturen, in denen sie leben, zu übersetzen.

Ein Mehr an Welthaltigkeit erreichte er durch ein Weniger an üblicher Schriftgrammatik

Uwe Johnson war ein Vorgänger dieser Epoche, ein Altermoderner avant la lettre. Er hat den heutigen Autoren vorgemacht, was es heißt, sich den Herausforderungen der eigenen Biografie des Verlusts zu stellen. Sein Werk zeigt, dass es möglich ist, sich zu erinnern, ohne nostalgisch zu werden, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen, ohne diese im Nachhinein zu verklären, und zu neuen Ufern aufzubrechen, ohne diese zum Heilsversprechen zu überhöhen.

Ein Jahr nachdem er seinen lang erwarteten letzten Band der „Jahrestage“-Tetralogie beendet hatte, verstarb Johnson noch nicht einmal 50-jährig in England. Am kommenden Montag, den 20. Juli wäre er 75 Jahre alt geworden. Heute erlebt er als „Dichter beider Deutschland“ wieder eine Renaissance, nicht zuletzt, weil sein Geburtstag so gut in dieses Superjubiläumsjahr von BRD-Gründung und Mauerfall passt. Ein Etikett, mit dem man ihn, wie er einmal sagte, jagen könne. Wahrscheinlich nicht nur, weil er die Berufsbezeichnung „Dichter“ als anachronistisch empfand. Sein Werk lebt von der Einsicht, dass es viele Deutschlands, viele deutsche Stimmen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Sicht- und Lebensweisen gibt.

Auch den diesjährigen Jubiläen-Feiern hätte er sicherlich wenig abgewinnen können, hat sein Schreiben doch gezeigt, dass Erinnern in verordneten Bahnen nichts bringt. Soll es produktiv sein, muss es offen sein für Unordnung, für unberechenbare Falltüren und schmerzliche Überraschungen. Geschichten, in denen alles zusammenpasst, hat niemand mehr misstraut als Uwe Johnson.