Der Sound der Verwandlung

MUTANTENDISCO New York Ende der 70er: Zwei junge Einwanderer gründen das Label ZE und mischen Rassenstereotype und Hetero-Normen auf

Zhilka und Esteban sammeln geniale Dilettanten aller Schattierungen für ihr Label ein

VON KLAUS WALTER

Das Revival von Disco wird zum Dauerzustand. Ausgerechnet Disco, die hedonistische Feier des Augenblicks, wird historisiert. Je flüchtiger der Moment, desto größer der Wunsch, ihn für die Ewigkeit zu bannen. Im Zuge der Aufwertung der von der seriösen Popforschung lange verschmähten Lebenswelt haben sich inzwischen einige Deutungsweisen herausgeschält.

Eine zentrale Lesart besagt, dass sich Disco nach dem weltweiten kommerziellen Siegeszug in den Siebzigern wieder in den Untergrund zurückgezogen hat, um dort umso prachtvoller zu blühen – vor den Augen der eingeweihten Happy Few. Dort, im Untergrund, wachsen aus dem Humus von Post-Disco neue Sumpfblüten: HipHop, House, Techno.

Weitgehende Einigkeit besteht auch darüber, dass Disco und Punk Ende der Siebziger keine natürlichen Feinde waren, sondern ungleiche Verbündete im Kampf gegen den bösen, reichen, alten Rock. Nachdem sie den gemeinsam in die Flucht geschlagen haben, kommen sich die ungleichen Verbündeten näher und zeugen exotische Babys. Heute gilt die Zeit von 1978 bis 1984 als äußerst kreative Epoche.

Der Melting Pot lebt

Sie nennen es Post-Punk, Disco-Punk oder No Wave und die Hauptstadt der Bewegung(en) ist: New York. Ein letztes Mal wird die Stadt ihrem Kosmopoliten-Schmelztiegel-Ruf gerecht und spuckt ein paar gloriose Bastarde aus. Einer davon kommt 1950 als Theodore August Darnell Bowder in der Bronx zur Welt, nennt sich Kid Creole, nach einem Song von Elvis, und erklärt New York in einem autobiografisch-ironischen Song über eine gottesfürchtige Familie. Die will nix wie raus aus der Bronx, an einen sicheren Ort, wo es „no blacks, no jews, no gays“ gibt. An anderer Stelle singt Darnell: „When you leave New York you go nowhere.“

New York ist Ende der Siebziger Fluchtpunkt. Der englische Journalist Michael Zhilka wandert dorthin aus. Er liefert das Z zum neuen Firmennamen, das E kommt von einem Kunststudenten aus Frankreich, Michel Esteban. Einschlägige Berufserfahrung trübt den beiden Neu-New-Yorkern nicht den Blick, als sie 1979 eine Plattenfirma gründen. Für ZE Records verlassen sie sich auf ihren Instinkt.

Zhilka und Esteban sammeln geniale Dilettanten aller Schattierungen für ihr Label: Eine futuristische Lo-Fi-Kreuzung aus Kraftwerk und Elvis mit dem sprechenden Namen Suicide, die ihre grundanständige linkssäkulare Nuyorican Jewishness hinter einer Furcht einflößenden Schock-&-Horror-Attitüde verbirgt. Den Saxofon-Maniac und James-Brown-Aficionado James White (alias James Chance), der seine Band mal The Blacks nennt und mal The Contortions. Für Faux Chanson stehen die charmanten kleinen Französinnen Lizzy Mercier-Descloux und Cristina Monet-Palaci. Lizzy Mercier-Descloux verkörpert das zierlich-weiße Tomboy-Pendant zum androgynen Männermörderinnen-Modell Grace Jones. Soundtechnisch ist ihr ZE-Records-Debüt „Press Color“ ein Gegenentwurf zum New-Wave-Disco von Grace Jones, allerdings ein Gegenentwurf mit demselben Versprechen: NIGHTCLUBBING, we’re what’s happening!

Explizit und genial

Cristina Monet-Palaci, Tochter einer französischen Psychoanalytikerin und eines amerikanischen Romanciers, tauscht die akademische Karriere in Harvard gegen eine Viertelstunde Ruhm als Disco Clone und Faux Chanteuse. Unter der Regie des allgegenwärtigen August Darnell kräht Cristina (ohne Nachnamen) 1980 derb kalkulierte Covers von europäischen Männern, etwa Michel Polnareffs „La poupée qui fait non“. Die Subtexte der gegengeschlechtlichen Aneignung sind so eindeutig, dass man sich das „Sub“ sparen kann. Dem entspricht Cristinas Inszenierung – kaum bekleidet, aber unnahbar. Ihr verkanntes Album „Sleep it off“ erscheint 1984 mit einem von Jean-Paul Goude gestaltetem Cover, auf dem er ihren nackten Hals grafisch zerschneidet.

Mit Lydia Lunch und den Waitresses landen weitere sexuell explizite geniale Dilettantinnen bei ZE Records. Was haben diese Frauen, bei allen Unterschieden, gemein? Sie können nicht singen und klingen super, sie betreiben offensives Pin-upping, sehen super aus und suggerieren Selbstbestimmung und Kontrolle. Auf diese Art stiften sie neue Koordinaten in der Ordnung der Geschlechter. Die gelungenen Entwürfe haben dabei immer mitthematisiert, dass diese Frauenfiguren auch Geschöpfe männlicher Imagination und Manipulation sein könnten. Lipstick Feminism war ein Wort der frühen ZE-Jahre. Gut möglich, dass einige Ein-Frau-Pop-Unternehmen von heute sich in puncto rabiater Eklektizismus und sexuell offensive Selbstinszenierung was abgeschaut haben bei den ZE-Frauen, M.I.A. zum Beispiel oder Ebony Bones.

Mit den populären Frauenbildern der kommerziellen Hochphase von Disco haben die Cristinas, Lizzies und Lydias aus dem Hause ZE so viel gemein wie Kid Creole mit den Bee Gees. ZE-Disco ist Post-Disco, Zitat-Disco oder, besser: Mutant Disco. So heißt eine ZE-Compilation aus den frühen 80ern mit sprechendem Untertitel: „A Subtle Discolation of the Norm“. Discolation ist auf so richtige Art falsch geschrieben: eine Verballhornung von Dislocation. Dislocation bedeutet eigentlich Verrenkung und meint hier den kulturellen Verpflanzungs- und Umwidmungsprozess, den Disco durchlaufen hat auf dem langen Weg vom Saturday Night Fever in die Lofts, Paradise Garages und wie sie alle heißen, die Schmelztiegelclubs des legendenumrankten New York der freizügigen Frühachtziger.

Hedonistisches Dislozieren

(Mutant) Disco war der musikalische Durchlauferhitzer für das kollektive, hedonistische Dislozieren von Hetero-Normen und Rassenstereotypen. Meint auch Nile Rodgers, Ex-Black-Panther-Disco-Pionier mit Chic: „Die Disco-Bewegung wurde getragen von Frauen, Schwulen und Ethnics. Donna Summer, Gloria Gaynor, Grace Jones, die Village People waren revolutionär. Plötzlich tanzten straighte Leute in einem Club mit Gay Persons, das war das Subversive an Disco.“ Die Gründerjahre von ZE Records sind Jahre maximaler musikalischer Freiheit, die für den historischen Glücksmoment maximal genutzt wird.

Die große Krankheit mit dem kleinen Namen (Prince in „Sign Of The Times“) kostet viele Aktivisten des New Yorker Disco-Undergrounds das Leben, neue Normen greifen Platz. An diesen Teil der Geschichte erinnern gegen ihre Intention einige Songtitel der wundervollen ZE-Compilation: „Things Fall Apart“, „Maladie D’Amour“, „Something Wrong In Paradise“.

■ Various Artists: „ZE 30 – ZE Records 1979–2009“ ■ Kid Creole: „The August Darnell Years“ (beide Strut/K7)