Die rote Linie ist nur zu erahnen

GASTLAND CHINA Das System, mit dem chinesische Zensoren die Literatur des Landes kontrollieren, ist verblüffend einfach – und verblüffend effizient

Zwischen den Zeilen zu schreiben gehört seit Jahrhunderten zur hohen Kunst in der chinesischen Literatur

VON JUTTA LIETSCH

In der Pekinger „Bücherstadt“, dem gewaltigen Buchladen westlich des Tiananmen-Platzes, drängen sich die Kunden um die Tische mit Bestsellern. Am Eingang stapeln sich die Reden und Artikel des früheren Premierministers Zhu Rongji. In der Nähe liegt der Titel „China ist unglücklich“, dessen fünf chinesische Autoren sich darüber beklagen, dass die übrige Welt ihre Heimat nicht verstehen wolle. Gleich daneben ermutigen Biografien erfolgreicher US-Unternehmer ihre Leser, zielstrebig die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen. Ein Band mit Konfuzius-Zitaten gibt Lebenshilfe.

Mehr als 200.000 Titel bietet das Flaggschiff der staatlichen Xinhua-Ladenkette. Sie vermitteln einen Eindruck von der riesigen Menge von Publikationen, die in China gedruckt werden: Neben tausenden Zeitschriften und Zeitungen kommen im ganzen Land jedes Jahr rund 300.000 Bücher auf den Markt, davon die Hälfte Neuerscheinungen. Im Internet, und sogar als Mobiltelefon-Literatur, erscheinen täglich zudem tausende Erzählungen und Romane.

Zensur und Kontrolle bleiben aber an der Tagesordnung. Daran erinnerte jüngst der Eklat in Frankfurt im Vorfeld der Buchmesse, bei der China im Oktober als „Gastland“ im Mittelpunkt stehen wird. Als die kritischen Autoren Dai Qing und Bei Ling bei einem Symposium eine Erklärung abgaben, zog die offizielle Delegation aus dem Saal. Bemerkenswert: Auch renommierte Schriftsteller wie der berühmte Mo Yan folgten den Funktionären. Der Vorfall lässt erahnen, wie fest die KP die Intellektuellen des Landes trotz aller privaten Freizügigkeit im heutigen China im Griff hat – und wie effizient sie die große Zahl von Schriftstellern, Journalisten und Bloggern überwacht.

Jeder von ihnen weiß: Wer sich zu weit vorwagt, muss damit rechnen, dass er in seiner Heimat nicht mehr veröffentlichen darf oder, schlimmer noch, hinter Gittern landet, so wie der Philosoph Liu Xiaobo.

Liu, Präsident des unabhängigen PEN-Clubs von China, zählt zu den Verfassern des Reformappells „Charta 08“, den mittlerweile tausende Chinesen unterschrieben haben. Nun droht ihm ein Prozess wegen „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“. Auf Solidarität des staatlich anerkannten Schriftstellerverbands kann er nicht hoffen: „Ich kenne ihn nicht“, sagt dessen Präsidentin Tie Ning.

In einem mächtigen Neubau in Peking sitzt das Presse- und Verlagsamt (GAPP). Die GAPP vergibt Buchlizenzen und ist zugleich oberster Zensor. Das heißt: Ihre Funktionäre verbieten unerwünschte Titel entweder direkt, oder sie sorgen mit Warnungen dafür, dass Verlage anstößige Themen gar nicht erst in ihr Programm aufnehmen.

Zu den einflussreichen Männern der GAPP gehört Wu Shulin, er steht im Rang eines Vizeministers. Wu ist mit verantwortlich für den offiziellen Auftritt Chinas bei der Frankfurter Buchmesse. Die Abteilung innerhalb der GAPP, die entscheidet, welche Bücher der Partei genehm sind und welche nicht, nennt sich Büro für Publikationsmanagement. Dort arbeiten, sagt Wu, „nicht viel mehr als ein Dutzend Mitarbeiter“.

Mehr seien auch nicht nötig. Die Verlagshäuser müssen selbst entscheiden, welche Titel sie in ihr Programm aufnehmen, sagt Wu. „Wenn die Herausgeber unsicher sind, ob der Inhalt rechtswidrig sein könnte, holen sie sich bei uns den Rat von Experten.“

Zu beanstanden sind nach Ansicht der Zensoren von den jährlichen 150.000 Neuerscheinungen „weniger als 600“, berichtet Wu. In der Regel gehe es dabei um „üble Kulte und Inhalte, die zur Untergrabung der nationalen Einheit Chinas führen oder zum Krieg aufhetzen“.

Die vage Formulierung erlaubt es den Kulturwächtern, nach Gutdünken einzugreifen. Die Grauzone ist daher gewaltig, die rote Linie der Verbote oft nur zu erahnen. Ein Presse- und Publikationsgesetz, das es Schriftstellern und Verlagen erlauben würde, ihre Rechte einzuklagen, gibt es nicht.

Hinter dem Stichwort „Untergrabung der nationalen Einheit“ verbergen sich die Frage nach den Hintergründen des Tiananmen-Massakers ebenso wie das Streben nach Unabhängigkeit in Taiwan, das Privatleben der höchsten KP-Führer sowie die Nationalitätenkonflikte in Tibet und Xinjiang. Auf der anderen Seite kann zum Beispiel über Korruption unter Funktionären geschrieben werden – wenn sich am Ende die sauberen Kräfte in der KP durchsetzen.

Eine Beschäftigung mit Aids ist nicht erwünscht, wie der Schriftsteller Yan Lianke erfuhr. Sein Roman „Der Traum meines Großvaters“ über den Aidsskandal in der Provinz Henan ist gerade in deutscher Übersetzung erschienen. Yan gehört zu jenen Autoren, die sowohl erlaubt als auch verboten sind. Das heißt, einige Werke dürfen erscheinen, andere nicht. Häufig lassen die GAPP-Kontrolleure heikle Sujets zunächst passieren. Dieses System ist deshalb so erfolgreich, weil es mehr Spielraum lässt, als es zum Beispiel die Kulturwächter in der DDR taten.

In China hingegen kommt das Aus für kritische Bücher häufig erst, wenn sie schon in den Buchläden stehen – und sich herausstellt, dass sie auf großes Interesse bei den Lesern stoßen. Damit tragen die Verlage ein beträchtliches finanzielles Risiko. Sie müssen beanstandete Ausgaben nachträglich zurückziehen und einstampfen lassen. Eine Entschädigung erhalten sie nicht.

„Zwischen den Zeilen zu schreiben gehört seit Jahrhunderten zur hohen Kunst der chinesischen Literatur“, sagt Jing Bartz, Leiterin des deutschen Buch Informations Zentrums in Peking. Zu dieser Kunst gehört aber auch die Selbstzensur – weil sie sich und den Verlagen Kosten und Ärger ersparen wollen, umschiffen viele Schriftsteller empfindliche Themen lieber gleich.

Andere, wie Yan Lianke, loten immer wieder ihre Grenzen aus. Zur Buchmesse wird Yan aber nicht kommen. Er steht nicht auf der Liste der offiziell vom chinesischen Schriftstellerverband entsandten Autoren.