Die Quellcodes der Literatur

TRAININGSLAGER Mark McGurl analysiert die Geburt der Literatur aus den Reflexionsübungen des Creative Writing. Seine grundlegende und freche Studie „The Program Era“, in den USA breit diskutiert, sollte jeder lesen. Sie erklärt gleich mit, wie aus angehenden Autoren gute Angestellte werden

Bin ich nun ein Schriftsteller oder vielleicht doch nicht? Mit dieser Grübelei fängt alles an

VON STEPHAN WACKWITZ

Mark McGurls Buchtitel „The Program Era“ ist unter englischsprachigen Literaturkennern als respektloses und lustiges Zitat sofort identifizierbar. „The Pound Era“ heißt eine bis heute viel gelesene Monografie des kanadischen Literaturwissenschaftlers und McLuhan-Schülers Hugh Kenner, der 1971 die modernistischen Literaturpraktiken im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts – in den Jahrzehnten T. S. Eliots, Joyce’, Becketts, Lionel Trillings und unzähliger vergessener avantgardistischer Epigonen – auf den alles formierenden Einfluss Ezra Pounds zurückführte.

Als „The Pound Era“ herauskam, war das in diesem Buch beschriebene Syndrom von Werken, Kritiken, Haltungen freilich schon Literaturgeschichte. Der Einfluss Pounds in den USA war seit den Fünfzigerjahren langsam verdrängt worden durch den Einfluss eines akademisch-pädagogischen Dispositivs. Denn was Pound als Vorbild, Matrix, Distinktionsmodell und literarischer Quellcode in der amerikanischen Literatur bis 1945 war, so lautet die These Mark McGurls, sind seither und bis heute die Creative-Writing-Programme der amerikanischen Colleges und Universitäten. Was übrigens auch erklärt, warum in Deutschland, wo Creative Writing keine ausgearbeitete Tradition hat, die „Pound-Era“ mit der negativen Kunsttheologie Theodor W. Adornos bis in die Gegenwart eine fühlbare Präsenz behalten hat, vor allem in unseren lyrischen Subkulturen.

Respektlos und lustig – wie das in McGurls Titel versteckte Zitat – ist das ganze Buch. McGurl ist ein systemtheoretischer junger Literaturprofessor in Los Angeles, der in Harvard studiert und an der Johns-Hopkins-Universität über den Roman des 19. Jahrhunderts seinen Doktor gemacht hat. Zwischendurch schrieb er für die New York Times und die New York Review of Books. „The Program Era“, sein zweites Buch, ist voller wunderbarer Einsichten, treffender Beispiele und instruktiv durchgeknallter Diagramme. Auf fast jeder Seite finden sich Sätze wie (ich schlage das Buch willkürlich auf): „We all like to blame the systems, and so do the systems.“

Das zentrale Theorie-Mobile McGurls sind drei Kategorien, von denen man sich voller Neid wünscht, man hätte sie selbst erfunden, so originell und zugleich evident sind sie. „Lower Middle Class Modernismus“ ist die McGurl-Kategorie für Raymond Carver und seine Epigonen. „Technomodernismus“ steht für Bücher, die um „techné“ als selbstständigen Wert organisiert sind: Thomas Pynchon, Walter Abish, Donals Barthelme. McGurl rechnet zum Technomodernismus einleuchtenderweise auch die amerikanischen Poststukturalisten. Als „High Cultural Pluralism“ wiederum bezeichnet er literarische Werke, die aus solchen Lebenserfahrungen hervorgehen, die nicht von allen Lesern autobiografisch unmittelbar geteilt werden: slave narratives, J. D. Salinger und Isaac Singer, Gender-und Lesben-Literatur, die ethnischen oder soziologischen Sonderfälle und Marginalerfahrungen. Bücher, bei deren Besprechung Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ dann immer gleich den Satz „Ich interessiere mich nicht für Eskimos!“ parat hatte und für ein Argument hielt. Und dabei verkannte, dass auch sein geliebter Philip Roth zum „High Cultural Pluralism“ gehört.

Herta Müller zum Beispiel ist ebenfalls sehr deutlich „High Cultural Pluralism“. Judith Hermanns dekorativ melancholische Berichte aus dem Prekariat sind „Lower Middle Class Modernism“. Vieles von Dietmar Dath und Rainald Goetz ist Technomodernismus. Wie steht es mit Peter Sloterdijk? Probieren Sie es selbst mal durch, es macht Spaß und ist auch als literarisches Gesellschaftsspiel gut verwendbar.

McGurls Zentralthese lautet, dass die drei literarischen Hauptdispositive der US-amerikanischen Literatur nach 1945 entstanden sind im Milieu der Creative-Writing-Departments und nicht denkbar wären ohne das konzentriert-folgenlose Grübeln von Generationen ihrer Absolventen, ob sie denn eigentlich Schriftsteller seien oder vielleicht eher doch nicht. Denn die von ihm gesehenen Distinktionen sind zugleich solche der Selbstfindung und Selbsterfindung.

Diese wichtige Bestimmung hat er herausgefunden durch eine ethnologisch-mikrosoziologisch genaue Beschreibung der Creative-Writing-Praxis. Sie hat – was für deutsche Leser von McGurls Buch besonders faszinierend ist – große Ähnlichkeit mit dem Vorleseritual der Gruppe 47, das dann, ein bisschen abgewandelt, auch das Bauprinzip des „Literarischen Quartetts“ geworden ist: Einer oder eine muss aus einem noch nicht veröffentlichten Text lesen, und dann dürfen alle mal draufhauen, während der Autor live oder vor dem heimischen Fernseher dabei sitzt und nichts dazu sagen darf. Der Bachmann-Wettbewerb funktioniert heute noch so.

In den Creative-Writing-Departments in den USA sind die bereits etablierten und gedruckten Schriftsteller, die da Professuren innehaben, eigentlich nichts als die Schiedsrichter und Moderatoren genau dieses Rituals. Außerdem aber verdienen sie ihr Geld zugleich als lebende Beispiele und Modelle des Sachverhalts, dass man sich durch diese Leiden und Retourkutschen tatsächlich zum Schriftsteller qualifiziert. Dass man nach all dem gedruckt werden, Preise erhalten, zu Lesungen eingeladen werden kann. Hey, dass man Creative-Writing-Professor werden kann. Denn es gibt kaum einen zeitgenössischen amerikanischen Schriftsteller, der nicht Creative-Writing-Absolvent war oder irgendwann einmal Creative Writing unterrichtet hat.

McGurl ist ein sensibler und zugleich unideologisch zupackender Literaturhistoriker. Aber als Soziologe und Systemtheoretiker muss er sich zugleich für die gesellschaftliche Funktion des Creative Writing interessieren. Denn wenn er auch – meiner Ansicht nach vollkommen zu Recht – der literaturkritischen Ansicht ist, dass diese Praxis nach 1945 die interessanteste, folgenreichste und einfach beste Literatur der Welt hervorgebracht hat, ist er uns als Gesellschaftswissenschaftler zugleich natürlich eine soziologische Antwort auf eine Frage schuldig: Wieso haben hunderttausende von jungen Leuten, von denen die allermeisten nie als Schriftsteller anerkannt worden sind oder werden, seit 1945 viele Semester lang das Creative-Writing-Ritual zum Zentrum ihres Ausbildungsgangs und ihres Lebens gemacht?

Seine Antwort ist der eigentliche Clou an seinem Buch. McGurl geht von einer Distinktion innerhalb des Lower Middle Class Modernismus aus. Der nämlich spaltet sich in eine minimalistische und eine maximalistische Fraktion (Raymond Carver versus David Foster Wallace). Die soziologische Funktion von Maxi- und Minimalismus jedoch, so unterschiedlich die entsprechenden Texte aussehen, ist dieselbe. Maximalistische wie minimalistische Schreibweisen sind, wie Luis Menand im New Yorker über McGurls Buch schrieb, „ein Kunstgriff zur Reduktion des persönlichen Blamagerisikos und eine Methode, mit der Studenten aus dem Arbeitermilieu (Carver war der Sohn eines Holzmühlenarbeiters aus Oregon) mit dem akademischen Highbrow-Milieu zurechtkommen können“.

Auch das ist eine einfache und zugleich genau ins Schwarze treffende (nämlich einen selbst betreffende) Bestimmung. Da wir die Sozialisationsfunktion des Creative Writing an deutschen Universitäten so (noch?) nicht haben, funktioniert seine Maxi/Mini-Distinktion für deutsche Verhältnisse politisch-theoretisch besser als literarisch. Aber sie funktioniert. Der Universitätsmaoismus meiner Jugend war das bildungssoziologische Analogon von Carvers „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Und das elaborierte dekonstruktivistische Distinktionsgetöse unserer jungen Lacan-Schüler und Derrida-Adepten ist die deutsche Parallele zu David Foster Wallace’ maximalistischem Großwerk „Unendlicher Spaß“. Übrigens werden die beiden akademischen Distinktionsfraktionen bei uns derzeit durch die Antipoden Judith Hermann und Dietmar Dath auch literarisch eingeholt. Eine interessante Entwicklung, die vermutlich mit dem auch bei uns wachsenden Einfluss des Creative Writing zusammenhängt.

Mit den Antipoden Judith Hermann und Dietmar Dath werden die US-Distinktionen auch bei uns eingeholt

Blamagevermeidung, Distinktion, Eroberung der akademischen Höhen durch maximalistisch oder minimalistisch gesinnte junge Aufsteiger – das ist eine soziologische Funktion des Creative Writing. Eine zweite ist die Ausbildung einer breiten Schicht literarischer Kenner, ohne die das überlegene Niveau der amerikanischen Belletristik, Essayistik und Sachbuchliteratur nicht denkbar wäre.

Eine dritte ist vielleicht der interessanteste Gesichtspunkt von McGurls Buch. Die Teilnahme an Creative-Writing-Seminaren erfordert nämlich ein Programm dauernder Selbstreflexion, eigentlich bestehen sie aus nichts anderem. Bearbeitet werden Fragen wie: Bin ich ein Schriftsteller? Was sind meine ganz eigenen Erfahrungen? Wie kann ich mich originell und zugleich publikumswirksam darstellen? Wer bin ich? Wie kann ich für meine idiosynkratische Authentizität Publikumsinteresse organisieren? Als eine Art Trainingslager und Durchlauferhitzer spezifisch moderner Angestelltenerfahrungen verwandelt sich dieses Grübeln in nichtliterarischen Anschlusskarrieren organisch in Fragen wie: Wie kann ich erreichen, dass mich mein Chef gut findet? Warum bin ich für gerade diesen Job genau der Richtige? Wie kann ich mich optimal darstellen? Wie kann ich meine Interessen und die der Firma optimal ausbalancieren?

Auch im modernen Berufsleben geht es inzwischen weniger um die Frage „Was bin ich?“ als um die viel allgemeinere, von Montaigne zuerst gestellte Zentralfrage der Moderne „Wer bin ich?“ Das Angestelltendilemma zwischen Authentizität und Lohnarbeit ist genau das, womit man in Creative-Writing-Programmen umzugehen lernt. Wenn es mit der Autorenkarriere nicht klappt, kann man daher immer noch eine prima Laufbahn als originelle Führungskraft einschlagen, ohne sich fragen zu müssen, wozu man eigentlich auf der Universität war.

Das Angestelltenmilieu und das künstlerische Milieu sind sich näher, als den erfolgreichen Schriftstellern und ihren akademischen Adepten lieb ist. Kreatives Schreiben als künstlerisch-psychologische Grundlagendisziplin des Angestelltenlebens erzeugt die zeitgenössische amerikanische Angestelltenliteratur und deren Leser zugleich. Denn es gibt wirklich soziologisch zurechenbare, ziemlich genau umrissene Ursprungsmilieus literarischer Vorlieben, Renaissancen, Karrieren und Leservorlieben, die eben alle gar nicht so spezifisch literarisch sind, wie sie selber glauben. Die Grundlagenprogrammierung literarischer Moden schreibt sich in konkreten Lebensverhältnissen.

Das definitive Buch über die sozialen Quellcodes der US-Literatur nach 1945 liegt als „The Program Era“ jetzt vor. Es ist, glaube ich, nicht zu hoch gegriffen, sein Buch jetzt schon für einen Klassiker nicht nur der Amerikanistik zu halten. Mark McGurl ist auch für deutsche Literaturkenner so etwas wie Pflichtlektüre (und sollte dringend übersetzt werden). Vor allem ist „The Program Era“ derart intelligent und witzig geschrieben, dass ich diese wissenschaftliche Monografie in den letzten beiden Wochen in meinen arbeitsfreien Stunden kaum je aus der Hand gelegt habe. Man erfährt in ihr etwas über einen selbst. Man kann sie auf Fahrradtouren mitnehmen und ins Café um die Ecke. Seit Heinz Schlaffers Büchern ist McGurls Buch das erste literaturwissenschaftliche, mit dem mir das so gegangen ist.

Mark McGurl: „The Program Era. Postwar Fiction and the Rise of Creative Writing“. Harvard University Press 2009, 480 Seiten, 25,30 US-Dollar bei Amazon