Die Krise als Lebensgefühl

GLÜCKSFERNE Warum man bei allen Weltproblemen auch die gute alte Lebenskrise keinesfalls vergessen sollte. Eine Art Jahresrückblick

Dazu passt die hohe Anzahl an literarisch gelungenen Schicksalsbüchern

VON DIRK KNIPPHALS

Rückblicke, auf dieses Jahr oder gleich das ganze Jahrzehnt, rollen gerade ein wie Wellen in den Hafen. Krisen spielen in ihnen eine wichtige Rolle, und das kann ja auch gar nicht anders sein. Aber es sind äußere Krisen, die man da Revue passieren lässt. Finanzkrise, Opel-Krise, SPD-Krise (oder gleich: die Krise der Volksparteien), pünktlich zum Gipfel in Kopenhagen auch wieder verstärkt die Krise des Weltklimas.

Wenn innere Krisen, die gute alte Identitätskrise zum Beispiel oder auch Lebenskrisen, in diesen Rückblicken eine Rolle spielen, dann nur als von den äußeren Krisen abgeleitet. Mentalitäten sind auch tatsächlich schwer zu fassen. Aber Menschen sind keine Maschinen, die nach Reiz-Reaktions-Schemata funktionieren. Man kriegt die Krise als Lebensgefühl dieser Zeit nicht vollständig beschrieben, wenn man innere Krisen als zweitrangig behandelt.

Es lohnt ein Blick zurück auf zwei Romane, die in der ersten Hälfte dieses Jahres viel Aufmerksamkeit erhalten haben. So unterschiedlich ihre Autoren Judith Hermann (Ende dreißig, medienkompatibel, Labor Berlin) und Wilhelm Genazino (Mitte sechzig, Außenseiter-Star, alte Bundesrepublik) sonst auch sein mögen – in beiden Romanen behauptet eine Lebenskrise ein Eigenrecht. Die erzählerischen Folgen dessen sind aber so verschieden in Judith Hermanns Roman „Alice“ und Wilhelm Genazinos Roman „Das Glück in glücksfernen Zeiten“, dass man an ihnen vielleicht sogar eine Entwicklung festmachen kann.

Die spezifische Behandlung der Lebenskrise in „Alice“ lässt sich gut an einem Satz zeigen, der grammatikalisch seltsam ins Rutschen gerät. „Ich bin ja, dachte sie, eine von vielen, verlor sich in der winterlichen, kalten, prächtigen Halle des Bahnhofs zwischen all den anderen und den hierhin und dorthin weisenden Möglichkeiten des Reisens.“ Das denkt Alice, die Zentral- und Spiegelfigur, während sie bereits den vierten nahen Toten in dem schmalen Band betrauern und verarbeiten muss. Der fünfte Todesfall steht ihr in dem auf das Zitat folgenden Abschnitt noch bevor. So wie das Subjekt des zitierten Satzes verliert sich diese Alice in diesem Pathosbild (man denkt sich sofort eine am Kran hochfahrende Kamerabewegung dazu) „zwischen all den anderen“. Noch nicht einmal ihre Lebenskrise hat sie exklusiv. Diese Alice ist, nicht obwohl, sondern gerade weil ihr das Leben übel mitspielt, „eine von vielen“.

Bei Wilhelm Genazino klingt das ganz anders. Man muss bei ihm vorsichtig sein, wenn man Sätze aus dem Zusammenhang reißt. Genazino lässt seinen Ich-Erzähler Gerhard Warlich viele kluge Sätze sagen, die sich im Verlauf der Erzählung als trügerisch erweisen. Aber schon diese Perspektivwahl sagt etwas aus: Genazino liegt daran, seine Hauptfigur von den anderen Figuren des Romans zu isolieren (am Schluss finden wir diesen Gerhard Warlich in der Psychiatrie wieder). Das spiegelt sich im Buch in vielen kleinteiligen Beobachtungen.

Etwa in der Mitte lässt Genazino seinen Ich-Erzähler feststellen: „Ich gehe aus dem Hotel und schaue die Leute an, die hier herumlaufen. Es ist, als wäre ich von schwer erträglichen Verwandten umgeben, denen ich mich trotzdem verbunden fühle.“ Herumlaufende Leute, wie in Judith Hermanns Bahnhof. Aber bei Genazino verliert sich die Hauptfigur nicht in ihnen, es ist von ihnen „umgeben“, fühlt sich ihnen nur diffus „verbunden“. Es ist, als würde der Erzähler bei Wilhelm Genazino eine Mauer um sich herumtragen (und man hat sogleich eine um die Hauptfigur kreisende Kamera im Kopf).

Man kann das so allgemein sagen: Mit einer Lebenskrise wird man bei Wilhelm Genazino zum Außenseiter; bei Judith Hermann wird man damit zu einer Person unter vielen. Die Entwicklung liegt nun darin, dass gerade in diesem Punkt Judith Hermann aktueller und heutiger wirkt als Wilhelm Genazino. Bei Genazino, einem Routineur der Melancholie, schwingt in diesem Buch viel Literaturgeraschel mit. Untergründig gibt es Verbindungslinien zum Ahnherr aller pathetisch Lebenskriselnden, Georg Büchners „Lenz“. Man weiß auch gar nicht so genau, wann sein Roman spielt; manches klingt eher nach Achtzigerjahre als nach Gegenwart. Ein diffuses Leiden an einer als allgemein empfundenen Entfremdung trägt die Erzähldramaturgie.

Bei Judith Hermann dagegen gibt es klare Anlässe für die Lebenskrise. Aber es trifft nicht, diesen Roman als Geschichte der Verarbeitung von Todesfällen zu begreifen. Eher wird der Tod als schweres Zeichen zur Beschreibung eines Zustandes eingesetzt, der mit einem stets prekären Leben rechnet. Dieses Prekäre ist dabei keineswegs nur die Folge unsicherer wirtschaftlicher Verhältnisse. Selbst wenn alle Finanzkrisen dieser Welt ein für alle Mal gelöst wären, bliebe in „Alice“ immer noch die Krise, die das Leben selbst ist; die Glücksferne selbst in glücklichen Zeiten also. Judith Hermanns Figuren haben längst als Normalzustand verinnerlicht, dass nur sie selbst ihrem Leben Sinn geben können – und dass nach all den Projekten, die sie dazu anstellen (Beziehungen pflegen, kreativ am iBook arbeiten, Kinder kriegen), nur der Tod kommen wird.

Eine Lebenskrise umfasst damit aber auch nicht – wie noch bei Genazino – das Ganze der Identität einer Figur. Sie ist vielmehr eine Art ständiger Begleiter, etwas, was immer droht und stets nur mehr oder weniger gut umschifft werden kann, ein Schatten der eigenen Ich-Entwürfe.

Diese andere Krisenerzählung hat Folgen. Eine ganze Reihe von Gesellschaftskritikern, wenn man so will: die Genazino-Fraktion schließt von Lebenskrisen auf gesellschaftliche Desintegrationsmechanismen zurück. Bei Judith Hermann dagegen sind Lebenskrisen normal geworden. Man kann von ihr aus geradezu die Rechnung aufmachen, dass sie nicht der Ausdruck einer Krise der Gesellschaft als Ganzes, sondern vielmehr eine Errungenschaft des Wohlstands unserer Gesellschaft sind. Während Sinn- und Lebenskrisen früher stellvertretend von Künstlern und Adeligen ausgelebt werden mussten, können heute breite bürgerliche Schichten ihre bohemistische Lebensphase pflegen; mit Berlin leistet sich diese Gesellschaft jedenfalls geradezu ein Experimentierfeld mit Weltbedeutung in Sachen Lebensentwürfen und den dazugehörigen Krisen (andere Großstädte haben wenigstens entsprechende Viertel).

In vielen Romanen dieses Jahres behaupten Lebenskrisen ein Eigenrecht

Außerdem werden Lebenskrisen inzwischen sorgfältiger bearbeitet als früher. Auf dem Buchmarkt schlägt sich das darin nieder, dass sich längst zu jeder Übergangskrise (Pubertät, Praktikum, Mutterschaft, Vaterschaft, Lebensmitte usw.) ein eigenes Genre an Ratgebern und Erfahrungsberichten etabliert hat. Dazu passt die 2009 erstaunlich hohe Anzahl an auch literarisch gelungenen Schicksalsschlagbüchern, von Christoph Schlingensief über Georg Diez’ „Der Tod meiner Mutter“ bis hin zur Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt mit „Du stirbst nicht“.

Judith Hermann hat recht, gerade durch eine individuelle Krise wird man eine oder einer „von vielen“. Die Lebenskrise ist längst popularisiert; sie bietet – im Leben selbst oder auch in Buchform – die Möglichkeit, um sich über die Zumutungen, aber auch die Bedeutung seines Lebens Rechenschaft abzulegen. Selbst Frank Schirrmachers „Payback“, als Sachbuch unergiebig, als etwas verquerer Roman einer digitalen Überforderungskrise aber hübsch zu lesen, kann man anführen. Und in seinem schönen Debütroman „Grenzgang“ erzählt Stephan Thome überzeugend davon, wie weit innere Krisen längst in den Kern des Mainstream hineinragen; auch hinter den Vorgärten einer Kleinstadt in der Provinz gibt es bei Thome ein zähes, stilles Ringen darum, dem eigenen Leben Sinn und Bedeutung abzutrotzen.

Wenn die Krise als bestimmendes Lebensgefühl beschrieben wird, sollte man in die Bilanzen also auch solche inneren Krisen einarbeiten. Vielleicht wird 2009 – zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, über vierzig Jahre nach 68 – ja tatsächlich bald das Jahr gewesen sein, in dem die Normalität solcher Lebenskrisen deutlich wurde. Äußere Krisen soll man bearbeiten. Aber innere Krisen, die auch nicht weniger werden, eben auch – nach ihren eigenen Maßstäben.

Es werden dann vielleicht doch spannende Zehnerjahre werden.