Ein Zirkus sitzt fest

WINTERSTARRE Ein Wanderzirkus ist ein kleines Familienunternehmen und gastiert am Moritzplatz. Eigentlich ist die reguläre Spielzeit längst vorbei. Doch der Zirkus kann wegen des Winters nicht weiterziehen

Zirkusdirektor Harry Silva und seine Familie sind gegen die Witterung machtlos

VON JENNI ZYLKA

Hinter zahllosen-Robben-&-Wientjes-Pritschen hat ein Lama fleißig Reviermarkierungen auf dem harten, schmutzigweißen Boden um ein kleines Zirkuszelt hinterlassen. Es steht am Moritzplatz auf dem Gelände des urbanen Grünzeugkollektivs „Prinzessinnengarten“. Das Landwirtschaftsprojekt hofft, dass die winterlichen Zwischennutzer, das köttelnde Lama, Ponys, Ziegen und Kamele, noch etwas vom Frühjahrs-Saatgut übriglassen: Doch der Wanderzirkus leidet unter dem langen, kalten Winter.

Seit Januar sind die Vorstellungen vorbei, Anfang Februar wollte man längst weitergereist sein und die Gastfreundschaft der Prinzessinnengärtner nicht weiter beanspruchen. Doch Zirkusdirektor Harry Silva, seine Frau Annedore (*), die drei Söhne zwischen 7 und 13 und die dreijährige Tochter sind gegen die Witterung machtlos. „Wenn wir die gefrorene Zeltplane jetzt abbauen, geht sie kaputt. Und die Stangen kriegen wir eh nicht aus dem Boden.“

Die Tiere brauchen Futter, auch im Winter

Harry sitzt am Tisch und starrt in den Kaffee, den Annedore aus einer goldglänzenden Warmhaltekanne serviert. Es scheint, als wären König Midas oder zumindest Goldfinger in der beeindruckenden Wohnwagenkonstruktion mit einfahrbarem Wohnzimmererker zu Besuch gewesen und habe einen Obstkorb aus Keramik, einen Porzellan-Pfau und diversen anderen Nippes verschönert. In der Ecke murmelt der Fernseher, vor dem sich das patente Zopfmädchen erfreut, im kleinen Kinderzimmerteil des Wagens spielen die Söhne mit Playmobil, die beiden älteren haben auch noch ihren eigenen Wagen, der neben dem beräderten Familiendomizil steht. Die Toilette ist momentan unbenutzbar, denn auch die Abwasserrohre sind gefroren. Irgendwo draußen auf dem Platz stehen Dixi-Klos. Bei dem Wetter stinken sie glücklicherweise nicht allzu sehr.

Aber das würde ja alles noch angehen, wenn man nur die Zeit im Kiez totschlagen müsste, mit Tierpflege, Spielen, Lernen. Die drei schulpflichtigen Kinder gehen, solange der Zirkus hier gastiert, auf eine Schule in der Nähe, in Absprache mit den jeweiligen RektorInnen drücken sie so während des Herumreisens regelmäßig immer wieder neue Bänke. Doch die Tiere brauchen pro Woche 100 kg Möhren, 30 kg Hafer, 50 kg Mineralkraftfutter und massenweise zu Rundballen gepresstes Heu. Auch, wenn kein Pfennig reinkommt. Dem klitzekleinen Zirkus fehlen nun die Eintrittsgelder. Und selbst wenn Familie Silva den Platz räumen könnte – vierhändig, der 40-jährige Harry und die zierliche, dunkelhaarige, ein paar Jahre jüngere Annedore sind die einzigen schleppfähigen Menschen: Selbst wenn sie also die vier Kamele, sechs Ponys, die Ziegen und das Lama, die 300 kg schwere Plane und das Gestänge des Chapiteaus, die Sitzgelegenheiten, das Tierzelt, die Kasse, die Wohnwagen und alles andere mit dem einzigen Transporter und dem Bulli auf den nächsten Zeltplatz irgendwo draußen in Brandenburg schleppten – auch in Berlins Umgebung sind die Böden noch immer gefroren. So sitzen die Silvas schon seit einiger Zeit in Kreuzberg fest.

Um im Zelt proben zu können, müsste man es erst einmal heizen. Im Tierzelt dagegen ist es wärmer, die Vorfahren des „springenden Lamas“ Rocky, das nie so schlecht gelaunt ist, dass es Menschen anspuckt, stammen aus dem Himalaja, die der Kamele kommen aus der mongolischen Steppe, die Ponys und Ziegen haben ein dickes Fell – die Minusgrade, unter denen die Berliner ächzen, sind den Tieren also höchstens ein müdes Schwanzwedeln wert. Der Zirkus hat sich erst vor anderthalb Jahren als Familienunternehmen selbstständig gemacht. Vorher gehörten seine Gründer zu einem größeren Betrieb: Annedore und Harry kommen aus Schaustellerfamilien. Sie kennen harte Winter, magere Zuschauerzahlen, erboste TierschützerInnen.

Die „Salto mortale“-Zeiten sind lang vorbei

Kleinstrevuen wie sind in die Zirkuswelt hineingeboren, kennen nichts anderes und leben seit je vom dankbaren Kinderpublikum: Die lachen über die Clownsnummern der Silva-Sprösslinge, staunen über einen nicht allzu schwindelerregenden Drahtseilakt, finden allein die Tatsache aufregend, dass echte Pferde im Kreis laufen und echte Kamele ihre Höcker zeigen. Sie würden sicher auch die alte Nummer mit dem rechnenden Pony goutieren. Doch die Silvas haben keine Homepage, und Kitas und Schulen waren das letzte Mal in der regulären Spielzeit zwischen Dezember und Januar da. „Wir würden auch Extra-Vorstellungen geben“, sagt Harry. Wenn nur das Eis endlich tauen würde.

(*) Namen geändert