DER SCHNEE FÄLLT, VATERS GELIEBTE ERSCHEINT, UND NUN MÜSSEN DIE ARMEN KINDLEIN LEIDEN
: Der zweite Schnee

Liebling der Massen

ULI HANNEMANN

Der zweite Schnee. In meiner Kindheit war das ein Ereignis von geradezu ritueller Bedeutung. “Auf geht’s, Männer“, befahl der Vater schelmisch mir und meinen sieben Schwestern, die wir mit riesigen Alabasterschneeschaufeln bewaffnet und gähnend nebeneinander in der Stockdunkelheit angetreten waren, um die Einfahrt zu dem Knusperhäuschen aus Kruppstahl freizuhalten, in dem wir wohnten.

Damals war es ja noch ganz anders als heute: Wenn es überhaupt erst mal schneite, dann aber so richtig, und der zweite Schnee fiel immer am 2. Dezember, da konnte man die Uhr nach stellen. Er bedeckte das ganze Land blitzschnell mit einer meterdicken Schneewehe. Wir Kinder kämpften uns mit letzter Kraft durch den heulenden Schneesturm.

Bis zum 3. Dezember musste die Einfahrt picobello sauber sein, denn da kam die berühmte Schauspielerin Rapunzel Reimer zu Besuch, „die Reimer“, wie Vater sie ehrfürchtig flüsternd nannte, beziehungsweise „die große Reimer“. Dabei fanden wir Kinder sie in keiner Hinsicht groß, denn zum einen konnte sie selbst mit Stöckelschuhen noch fast unter der Türschwelle durchlatschen, und zum anderen beschränkte sich ihre schauspielerische Karriere darauf, mal im Piloten für eine Zombieserie im dritten Programm eine tote Ratte gegeben zu haben. Die Serie wurde dann schon während des Vorspanns des Pilotfilms abgesetzt und das Material vorsichtshalber vernichtet. Doch Vater war total verknallt.

„Hier ist nicht geräumt“, hörten wir vom Haus her die Reimer die Einfahrt hoch bellen, mit ihrer blechern schrappenden Reibeisenstimme, mit der sie Tsunamis zurück ins Meer hätte drücken können. Natürlich war die Einfahrt geräumt. Nur eine einzige Flocke lag noch schmelzend da, über die sich die Diva hinüberzuschreiten weigerte. „Verzeih mir, gnä’ Frau, Liebste“, eilte Vater ihr entgegen, im Lauf den mitgeführten Wohnzimmerteppich in Streifen schneidend und ihr damit eine Bahn auslegend, „die Kinder haben schlecht gearbeitet – ich werde sie töten lassen!“

„ ‚Gnä’ Frau‘! ‚Liebste‘!“, schnaubte neben uns Mutter in ohnmächtiger Wut. „Das will ich hoffen“, schrillte derweil die Reimer, „und denk dran: Es gibt schließlich immer noch den Ingo.“ Vater wurde blass: „Bitte nicht. Nicht der Ingo!“ Der Ingo war ein sagenhafter Verehrer, mit dem die Schreckschraube jedes Mal drohte. Dem Vernehmen nach maß der Ingo an die siebzehn Fuß, besaß einen Waschbrettbauch mit dreißig Riffelstufen, mehrere große Batzen Geldes und den schwarzen Gürtel in Cunnilingus.

Vermutlich existierte der Ingo gar nicht, und wenn doch musste es sich um einen genauso bemitleidenswerten Trottel wie Vater handeln. Die Reimer war hässlich wie die Nacht dumm, wohingegen der Liebreiz unseres guten Mütterleins auch im Vormärz ihres Klimakteriums ungebrochen ins Weltall strahlte.

Doch an diesem Tage blieb der Armen keine andere Wahl, als sich ins Turmzimmer zurückzuziehen. Von dort aus musste sie mit ansehen, wenn unten Vater und Rapunzel Reimer wie zwei junge Ferkel rosig, nackt und quiekend durch den frisch gefallenen Schnee im Kräutergärtlein tollten. Wieder und wieder warf Mutter nun in ihrem Schmerz ein irdenes Tässchen gegen die Wand der Turmstube. War das Tässchen entzwei, so warf sie die Scherben, waren die Scherben entzwei, warf sie deren Stücke so lange gegen die Wand, bis nur noch ein hauchfeiner Keramikstaub übrigblieb, den sie auch wieder gegen die Wand schleuderte, bis der Staub am Ende zu einer supramikroskopischen Substanz zerfallen war. Dabei jammerte sie laut. Wir Kinder konnten ihr leider nicht beistehen, da wir uns acht Mann hoch um die vergessene Schneeflocke in der Einfahrt kümmern mussten.

Irgendwann klingelte zum Glück meist das Handy der Reimer – angeblich war der Ingo dran –, und sie rannte flott davon, nicht ohne uns zuvor noch einen Stapel Autogrammkarten hinterlegt zu haben. Jahre später brannte sie dann tatsächlich mit Vater durch, doch, wie man hört, sollen die beiden nicht recht glücklich geworden sein. Der zweite Schnee weckt in mir bis heute zwiespältige Gefühle.