Der Hund Andreas

OSTEN Der Journalist Alexander Osang erzählt in seinem Roman „Königstorkinder“ die Liebesgeschichte eines Komplett-Verlierers der deutschen Wiedervereinigung und einer Münchner Premiumfrau. Warum?

Alexander Osang weiß, welche Knöpfe er drücken muss, um lakonisches Pathos zu erzeugen

VON ANJA MAIER

Manchmal hat man nicht übel Lust, diesem Andreas Hermann einen Tritt zu verpassen. Wie einem Hund, der nervt. Einem Köter, der sich vor jedem Pinscher wegduckt, obwohl er nun wirklich alt und groß genug wäre, sich zu behaupten. Aber dieser Romanheld hier, dieser Hermann, nervt einfach nur mit seiner Indifferenz, seiner Unmännlichkeit und dem Hautgout des totalen Losers. Des, um es in eine Herablassung zu kleiden: Ostlers der unerträglichen Sorte.

Der Journalist Alexander Osang erzählt in seinem neuen Roman „Königstorkinder“ die Geschichte eines Verlierers. Eines nach allen Regeln der Kunst Scheiternden, an den Verhältnissen irre Werdenden. Andreas Hermann, Mitte vierzig, ist der Typ Mann, den man – außer man verfügt über einen ausgeprägten Krankenschwesterkomplex – als Frau weiträumig umfahren sollte. Ein Problembär erster Kategorie, der das Leben nicht mal ansatzweise in den Griff kriegt, der in einem Loch haust, auf Hartz IV ist, sich Antidepressiva reinknallt und Scherereien macht, für die man ihn nicht mal gern haben kann.

Sex, danach Espresso

Die Frage, die sich beim Lesen aufdrängt, ist die nach dem Warum. Warum baut der Autor, einer der erfolgreichsten Journalisten der Republik, sich einen derartigen Jammerlappen als Hauptfigur? Warum versieht er ihn mit irritierend vielen biografischen Attributen seiner selbst und lässt ihn dann so grandios scheitern? Der Gedanke, da verarbeite einer wie Osang eine tief sitzende Angst, liegt so nahe wie der, dieser Andreas Hermann verkörpere einen Typ Ostmann, den Osang ganz gut kennt. Einer, der er möglicherweise selbst hätte werden können. Aber der er, der vielfach ausgezeichnete Spiegel-Reporter ostdeutscher Provenienz, nicht geworden ist. Also einfach nur Glück gehabt und andere seiner Generation eben nicht?

Die Geschichte ist komplexer. Der Held hatte schließlich seine Chance. Andreas Hermann ist – wie Osang – Journalist, noch ausgebildet an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er ist ein grüblerischer Typ im Berliner Prenzlauer Berg, einer, der Gedanken gern noch ein bisschen bewegt und befingert, bevor er sie in Worte kleidet. Einer, der mit jeder Menge Talent ausgestattet ist, aber irgendwann in seinem persönlichen Lebensfahrplan die entscheidende Ausfahrt verpasst hat. Plötzlich sind zwanzig Jahre seit dem Mauerfall um, Hermann ist Mitte vierzig, Single, Ein-Euro-Jobber und stapft jeden Morgen in einen Ostberliner Hinterhof, wo er mit anderen arbeitslosen Akademikern ein Theaterprogramm zum Mauerfalljubiläum einstudiert. (Und da hat er noch Glück – nebenan gibt es eine „Maßnahme“, deren Teilnehmer die Durchschnittshöhe von Berliner Bürgersteigen vermessen.)

Dann tritt Ulrike in sein Leben. Die Frau aus dem Westen wohnt nebenan in einer Art urbanem Ghetto: gleißend weißen, Townhouses genannten Reihenhäusern, bewohnt von erfolgreichen Ein-Kind-Familien auf Prenzlauer-Berg-Trip, die Wege zugeparkt mit dickärschigen SUVs. Ulrike ist das Klischee einer Westfrau: schön, klug, kreativ, sexuell attraktiv. Andreas Hermann erliegt ihrem kühlen Charme auf der Stelle, und die beiden fangen ein Verhältnis an, das so lange währt, wie Ulrikes Mann auf Dienstreise ist. Sex im Licht roter Rollos, weiße Schlüpfer, gebügelte Jeans, danach Espresso. Banaler geht’s nicht.

Osang beschreibt das alles wunderbar, wie stets. Der Mann weiß, welche sprachlichen Knöpfe er drücken muss, um jenes lakonische Pathos zu erzeugen, für das er, der mehrfache Kisch-Preisträger, so berühmt ist. Geschickt verwebt er die Story der Ost-West-Liebenden mit denen seiner Nebenfiguren; nicht einmal die ellenlangen Monologe seines Diplom-Hartzers öden an, ebenso wenig dessen Beobachtungen der schönen neuen Welt der Ulrike Beerenstein.

Nette Diskriminierung

Binnen kurzer Frist wird der Mann Andreas zum Hund Andi seiner Herrin Ulrike. Sie sucht das Abenteuer im wilden Ostler, er sucht Führung, Orientierung und lässt sich von der Westfrau dafür brav an die Leine legen. Ein Köter halt.

Es ist peinigend, zu lesen, wie der Autor seinen Helden durch jenes Viertel schwänzeln lässt, in dem Osang selbst seit Jahren lebt und das er schon in einigen Texten beschrieben hat. Das Bötzowviertel ist seit der Wende das Reservat der sympathischen Zugezogenen geworden – auf nett anzuschauende Weise gentrifiziert. An jeder Ecke eine Milchschaumdestille oder ein Geschäft für überteuerte Kinderkleidung, in jeder Parterrewohnung eine Agentur für irgendwas – eine Gegend, in der die heutigen Bewohner abendliche Kneipengänger „das Publikum“ nennen. Alexander Osang macht Andreas Hermann zum Zaungast in seinem eigenen Kiez, zum gescheiterten Ego, das dem Kisch-Preisträger und seinesgleichen beim guten Leben zuschauen muss.

Irgendwann überwinden Hund und Herrin den Zustand purer Ungleichberechtigung. Die cleane Ulrike lässt den nicht standesgemäßen Andreas in ihre Welt. Er, der Mann mit Vergangenheit, soll für ihre Werbeagentur eine Kampagne mit authentischem Ost-Pep entwickeln. „Sie schlossen eine Art Vertrag“, heißt es bei Osang, „er hatte sie in seine Welt gelassen, und nun wollte sie ihn in ihre führen. Sie wollte ihn für sich ausbilden, für eine Zukunft möglich machen.“ Innerdeutsche Entwicklungshilfe im 21. Jahrhundert oder: nett gemeinte Diskriminierung.

Schließlich, der Titel „Königstorkinder“ ist sprechend genug, kommt Ulrikes Mann zurück. Der Hund Andi muss zurück in seinen Teil der Stadt, zurück zu seinen Leuten von der Projektagentur und dem Mauerfall-Programm. Zurück in seine Einzimmerwohnung, zu den Psychopharmaka.

Und die begehrenswerte Ulrike? Muss zurück zu ihresgleichen, nicht ohne darunter zu leiden, den magischen Ostler, den Mann mit Vergangenheit, am Horizont verschwinden lassen zu müssen. „Warum ich?“, fragt er sie beim letzten Treffen. „Weil du ein richtiges Leben hast“, antwortet sie. Ach ja?

Alexander Osang: „Königstorkinder“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010, 336 Seiten, 19,95 Euro