Der rohe Drive des Augenblicks

URFASSUNG Der Text selbst sollte zur Landstraße werden, auf der Jack und Neal entlanghetzen: zur Erstübersetzung der legendären Urrolle von Jack Kerouacs Subkulturklassiker „On the Road“

Der Verrat ist nötig, um den wunderbar schwermütigen, sehnsuchtsvollen Schluss hinzubekommen

VON FRANK SCHÄFER

FBI-Chef J. Edgar Hoover war da durchaus anderer Meinung, aber Jack Kerouac verstand sich als guter Amerikaner. Er propagiert die Rückkehr ins gelobte, vorindustrielle Land, die Restitution des sagenhaften Uramerika, in dem die schrankenlose Freiheit und Unabhängigkeit, der absolute, anarchistische Individualismus herrschen. Und das es so natürlich nie gegeben hat.

Kerouac war so konservativ und kulturpessimistisch, dass es in seiner Zeit schon wieder als avantgardistisch verstanden werden konnte – mit seinem Misstrauen gegen alles Konstruierte, Geplante, vom Bewusstsein Gesteuerte, gegen die „fade Intellektualität“, und mit seiner Hinwendung zur Spiritualität, zu quasiromantischen Ideen, zum Unbewussten.

Am 2. April 1951 – ein paar Jahre nach den ersten Trips mit dem geliebten Kumpan Neal Cassady quer durch die USA, die die autobiografische Folie seines Schreibens liefern – setzt sich Kerouac an den Schreibtisch, um ihn dann drei Wochen lang nur noch für die Erledigung lebenserhaltender Maßnahmen zu verlassen. Aufgeputscht durch gehörige Mengen Kaffee und nicht Benzedrin, wie die alte Legende es will, improvisierte er auf einer einzigen großen Papierrolle aus aneinandergeklebten Blättern, wenn schon nicht die erste – das war John Clellon Holmes’ „Go“ (1952) –, so doch immerhin die folgenreichste Proklamation der Beatgeneration aufs Papier.

Das Manuskript sollte selbst zur Landstraße werden, auf der die beiden Protagonisten Neal und Jack rastlos entlanghetzen. Schon in der Form manifestiert sich das poetologische Programm, der Versuch, Literatur und Leben ununterscheidbar werden zu lassen. „On the Road“ hat dann später auch so gut wie jeder Subkultur nach der Beatgeneration als Referenz gedient. Dieser sagenhaften Rezeptionsgeschichte ging allerdings eine jahrelange Verlagssuche voraus. Der spontane, jazzige Stil mit seiner das Profane ekstatisch feiernden Sprache war den meisten Lektoren der Zeit offenbar zu ungeschlacht. Zudem befürchtete man ein Verbot wegen Obszönität oder Verleumdungsklagen von nicht immer vorteilhaft porträtierten Zeitgenossen.

Das Buch erschien folglich erst sechs Jahre später, von Kerouacs Lektorin bei Viking Press überarbeitet, domestiziert, geglättet bis in die Syntax hinein – und Jack wurde in „Sal Paradise“ umbenannt. Allerdings hatte auch Kerouac gleich nach der dreiwöchigen Eruption mit dem erneuten „Abtippen und Überarbeiten“ begonnen. Die jetzt vom Rowohlt Verlag aus dem Nachlass gedruckte „Originalrolle“ wollte er selbst nicht publiziert sehen, aber als Klassiker der Weltliteratur hat man nun mal sein Mitspracherecht verwirkt.

In der Rolle findet man nun also bestätigt, was man sich eigentlich auch hätte denken können. Die Urfassung ist noch roher, redundanter, zäher, aber auch provokativer. Nicht zuletzt die explizit homosexuellen Stellen hätten das Buch mit einiger Sicherheit auf den Index gebracht. Zugleich zeigt sie aber auch Kerouacs enorme Geistesgegenwart und seine Beherrschung der gerade erst entwickelten Methode des spontanen Schreibens, das so spontan dann aber auch nicht war. Bevor er sich an seinen Tippmarathon setzte, hatte er Kladden vollgeschrieben und auch schon ein paar Entwürfe fertig.

Ulrich Blumenbach hat den hektischen Drive dieser Diktion schön ins Deutsche transponiert, nur ganz selten („verschwurbelt“, „gebrezelt“, „schwuppdiwupp“) merkt man der Übersetzung etwas zu deutlich ihre historische Differenz vom Original an. Aber sehr schön klar macht diese Übersetzung, dass es hier, in der Geschichte von Neal und Jack, um die Authentizität des Erlebens, um die Intensität des unmittelbaren Augenblicks geht.

Neal ist der klassische Dropout, immer auf Achse, erdverbunden, kriminell. Ein vitalistischer Renegat. Jack ist sofort in ihn verschossen. Als Neal New York wieder verlässt, reist er ihm nach. Aber Neal entpuppt sich mehr und mehr als rücksichts- und verantwortungslos, lässt schließlich sogar Jack krank und allein in Mexiko zurück.

Jack bemüht sich, auch diesen letzten Verrat zu entschuldigen, wie er jegliche Amoralität zuvor entschuldigt hat – mit Neals elementarem Protest gegen das bürgerliche Leben und dessen Regularien. Zudem sieht er ihn als Personifikation eines Prinzips, das sich nun einmal nicht zähmen lässt: der Kreativität.

Aber schließlich verrät auch Jack seinen Freund ein bisschen. Das ist wohl nötig, um diesen wunderbar schwermütigen, sehnsuchtsvollen Schluss in diesem überhaupt wunderbar schwermütigen, sehnsuchtsvollen Buch hinzubekommen, das so viele krumme und schiefe Sätze hat wie ein improvisiertes Jazztrompetensolo Töne und doch auch so melodiös ist, dass man ihm auf all seinen verwinkelten und mitunter willkürlichen Wegen folgt.

Jack Kerouac: „On the Road. Die Urfassung“. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 535 Seiten, 24,95 Euro