Der großen Romantik die Flügel gestutzt

ROMANE SPIELEN Ein Händchen fürs schnelle Erzählen: Nora Schlocker inszeniert „Madame Bovary“ im Maxim Gorki Theater

Jede Entscheidung von Emma Bovary beruht auf Täuschung

Fluchtpunkt nennt man jene perspektivische Ferne, an der in einem Bild die Sichtgeraden zusammentreffen. Übertragen auf einen Raum, der tief und spitz nach hinten geschnitten ist, kann man das auch als eingeschränkten Handlungsraum bezeichnen.

Es ist eine angetäuschte Weite, eine, die weder Türen noch Ausgänge kennt, die das Bühnenbild von Nora Schlockers Inszenierung der „Madame Bovary“ beherrscht. Wo hinten eine Wand den Fluchtpunkt bildet, hängt ein goldgerahmtes Familienfoto als einsames Interieur, aber auch als klassisch-zeitloses Bildnis eines Eheglücks, das unerreichbares Fernziel bleibt.

Denn vorne heiratet, verführt, belügt, betrügt sich ein Paar und folgt dem Muster eines Abwertungsmechanismus: So leicht war der Mann zu haben, so schnell zufrieden, dass die Sehnsucht der Frau wuchert. Doch ihr Spielraum ist begrenzt auf die Rollen, die als Ehefrau, Mutter, Liebhaberin kollektives Gemeingut sind.

Klar und straff, auf die Kernfiguren konzentriert, fühlt man sich erst einmal nah dran an der Eskalationsgeschichte der Emma Bovary und ihres dumpf betriebsamen Ehemanns, nah auch an der Enttäuschung mit dem routinierten Verführer Rodolphe, ihrer zunehmenden Verschuldung und der Flucht in den Kauf schöner Kleider. Jede ihrer Entscheidungen beruht auf Täuschungen, auf einem Spiel mit dem Wechsel der Perspektive, an dem sich auch die Fantasie der Inszenierung entzündet. Da ist einerseits das symbolische Bühnenbild, andererseits rückt die Textfassung der Dramatikerin Tine Rahel Völcker, die Flauberts Roman fürs Maxim Gorki Theater bearbeitet hat, Glück und Unglück eng nebeneinander. Erzählt der Apotheker Hamois, dass Nervenleiden bei Frauen ein weit verbreiteter Normalzustand sind, hält Emma dagegen, vom Glück reden zu können, eine Frau zu sein – alles eine Frage der Perspektive.

Billig losgeworden

Dem Ehemann sagt sie: „Gott brauch ich nicht mehr, jetzt hab ich ja dich“. Zu sich selbst spricht sie im gleichen Atemzug: „Vater ist mich billig losgeworden an einen, der keine Bedingungen stellte.“ Nora Schlocker hat ein Händchen für das schnelle und knappe Erzählen und lässt die Szenen ineinanderfließen wie aus einem Guss. Aber dennoch: Wird ein Roman wie „Madame Bovary“ auf der Theaterbühne adaptiert, erwartet man noch etwas Besonderes.

Die Lektüre des Roman mag lange zurückliegen, aber die aus Empörung und Verletztheit gemischte Emma Bovary’sche Leidenschaft vergisst man nicht. Vor einigen Jahren wurde Jean Amérys Buch „Charles Bovary, Landarzt“ neu aufgelegt, eine Verteidigungsschrift, in der Bovary mehr ist als ein einfältiger Tropf, eine Brandrede hält und diese Figur dem Leser in neuem Licht erscheint. Diesen Perspektivwechsel lassen Autorin und Regisseurin links liegen.

Vom Sockel geholt

So eng der Abend dem Romanverlauf folgt, so sehr distanziert er sich von der Rezeptionsgeschichte, der Aufgeladenheit, der groß gezogenen Romantik. Es sind die Schauspieler, die ihre Rollen vom hohen Sockel holen und ihnen einen nachvollziehbaren Gefühlshaushalt verleihen. Roland Kukulies spielt den Verführer Rodolphe mit einer unverfrorenen Direktheit. Alexander Fehling, der nach seinen Filmrollen, zuletzt als Andreas Baader in Andres Veiels „Wer wenn nicht wir“ erstmals am Maxim Gorki Theater spielt, ist ein sehnsuchtsvoller, stets sympathischer Charles Bovary. Im Mittelpunkt steht Julischka Eichel als Emma, die nuancenreich den Wankelmut verkörpert: Sie lässt das Fehlleitende ihrer eigenen Freiheitsfantasie spüren und verwandelt sich zur aufgeschminkten Kokotte, die die Männer mit unterwürfigen Posen lockt.

Und doch erklärt sich auf der Bühne nicht das Drama, das sich ereignet, wenn Eichels Bovary sich selbst tötet und ihr Mann dem Wahnsinn verfällt. Da gleitet Eichel aus den Kleiderschichten heraus, und Alexander Fehling zwängt sich in den roten Stoff, als könnte er ihr damit unter die Haut kriechen und nahe kommen wie nie zuvor. Das ist zwar noch einmal ein schönes Bild. Aber der Vermischung aus Wahn und Wirklichkeit bis zum Tod folgt man nicht. Am Ende wirkt der Wille allzu offensichtlich, ihn langatmig bis zum Ende zu erzählen. SIMONE KAEMPF

■ Nächste Vorstellungen am 3., 20. und 28. März., jeweils 19.30 Uhr, Maxim Gorki Theater