Ungerade Geschichten

PROSTITUTION Rosa von Praunheims sensible Doku „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ gewährt Einblicke in das Leben von Strichern

VON RENÉ HAMANN

Das Wort, das mindestens zweimal fällt, lautet „vorprogrammiert“. Von Missbrauch, sozialer Vernachlässigung, Armut zur Prostitution ist es nur ein kurzer Weg, das zeigt dieser Film, die Dokumentation „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ des schwulen Kultregisseurs Rosa von Praunheim. Von Praunheim hat einen erstaunlich uneitlen, klug montierten und an Einblicken reichen Dokumentarfilm über vorwiegend ehemalige Stricherjungen vom berühmten Bahnhof Zoo vorlegt. Unterstützt nicht nur vom RBB, sondern auch vom Bundesbeauftragten für Medien und Kunst.

„Vorprogrammiert“: Der Film begleitet fünf Stricher, beleuchtet Umfeld und Hintergründe, rückt die Sozialarbeit nach vorn, spricht mit Szenewirten und im Falle des österreichischen Filmemachers Peter Kern sogar mit einem Freier. Was wir hören, sind diverse ungerade Geschichten: Die von Daniel-René zum Beispiel, der schon als Grundschüler vom Hausmeister missbraucht und allmählich in einen Ring aus Päderasten, Heimpornodrehs und versteckter Zuhälterei gezogen wurde. Mit 18 ist er auf sich selbst gestellt, ein paar Jahre später erfährt er, dass sein „Umfeld“ endlich von der Polizei hochgenommen werden konnte. „Und ich dachte, das seien meine Freunde“, sagt er im Wortsinn.

Das Bildmaterial – gedreht wurde auf DigiBeta – bleibt zurückhaltend, es gibt einige Shots von Orten, U-Bahn-Stationen, Bars rund um den Zoo und in Schöneberg-Nord, aber es wird nie etwas ausgestellt, auch nicht die Körper der Protagonisten. Allein der Besuch im rumänischen Dorf, aus dem der Rom Ionel stammt, gerät recht folkloristisch samt geschlachteter Ziege, aber insgesamt liegt der Schrecken in den Körpern, subkutan, und in den Geschichten, die zu erzählen sind. Das gilt sogar für den Bosnier Nazif, der als Kind und Bürgerkriegsflüchtling nach Deutschland kam und früh Erfahrungen mit Missbrauch, Drogen, Anschaffen, Liebesversuche mit Freiern machen musste, bis man ihn wieder abschob. Und doch kann man gerade bei Nazif auch die Spuren sehen. Die Narben. Die Wunden. Den Schorf. Und die Weggetretenheit, die Betäubung, die vom Methadon herrührt.

Hartes Zeug also, das hier präsentiert wird. Allerdings gelingt es von Praunheim, nie eine Achtzigerjahre-Problemfilm-Betroffenheit aufkommen zu lassen. Auch bleibt es, was die Analogien zu Christiane F. als Exempel des Heroinruins der Siebziger-/Achtzigerjahre betrifft, bei der Referenz im Filmtitel. Klar, es gibt und gab Drogen (vornehmlich ist von Ecstacy und Koks die Rede), Popkultur hingegen interessiert schon eher weniger (das Wort „Loveparade“ fällt nicht einmal; dafür rückt die „Berlinale“ einige Male ins Bild). Rosa von Praunheim interessiert sich tatsächlich für etwas, das dem ganzen eher entgegengesetzt zu sein scheint, aber, wie es der Freier Kern zeigt, gar nicht unbedingt entgegengesetzt ist: Man nennt es Liebe. „Stricher, Huren sind Heiler“, sagt Kern. Von dieser Perspektive hätte man gern noch mehr gehört.

Aber auch so reicht es, um zu sehen, dass das Politische dieses Themas nicht fern ist. Dass es in der Hauptsache ums schnelle Geld geht, auch um die Familie in Rumänien mitzuernähren. Gebürtige Deutsche als Stricher, auch das erfährt man, gibt es so gut wie gar nicht mehr. Es sind die Migranten, die hier ausgenutzt werden, sich ausnutzen lassen. Um irgendwie ein Leben hier und dort führen zu können. Aber es geht auch um die Spiralen der Gewalt, um die „vorprogrammierten“ Abstürze in das soziale Elend, in den Moloch, der Berlin ist oder sein kann. Ob am Bahnhof Zoo, in Schöneberg, in der Platte oder sonst wo.

■ „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“, Dokumentarfilm. Regie: Rosa von Praunheim, D 2011, 84 Min.