Räume der Gewalt

LAGER Ausgrenzung, Kontrolle, Hunger, Ermordung: Die Berliner Colloquien zur Zeitgeschichte analysierten die „Welt der Lager“ auf einer Tagung

Die „Welt der Lager“ war für viele die treffendste Signatur für das vergangene Jahrhundert. Aber was genau bedeutet dieser das Grauen heraufbeschwörende Begriff für uns heute? Giorgio Agamben, der bedeutende italienische Philosoph, hat die Lager als „verborgene Matrix der Politik, in der wir heute noch leben“ gekennzeichnet. Für ihn ist der Ausnahmezustand, der in den Lagern herrscht und die Insassen der vollkommenen Rechtlosigkeit ausliefert, die Kehrseite auch der demokratischen Staaten und die Voraussetzung ihres Funktionierens.

Mit solchen Nachtvisionen, wo alle Katzen grau sind, wollte sich eine Tagung nicht zufrieden geben, die letztes Wochenende im Rahmen der „Berliner Colloquien zur Zeitgeschichte“, einer Kooperation des Einstein Forums Potsdam und des Hamburger Instituts für Sozialforschung, stattfand. Was die Voraussetzungen dafür waren, dass Lager entstanden, welch unterschiedlichen Funktionen sie dienten, wie Ausgrenzung und soziale Kontrolle wirkten, wie und in welchem Umfang Gewalt ausgeübt wurde – das waren die leitenden Fragen. Die Antworten sollten in möglichst „transnationaler Perspektive“, also vergleichend, gegeben werden. Gut zwei Dutzend Spezialisten referierten.

Über die Vorgeschichte der Lager hielt der in London lehrende Historiker Andreas Gestrich ein anschauliches Referat: Er unterschied, hauptsächlich mit Blick auf die englische Geschichte, drei Bildungselemente. Im 18. Jahrhundert waren dies erstens die Quarantäne, der Ausländer als Folge der Angst vor Seuchen unterworfen wurden, vor allem, wenn sie in Massen auftraten. Zweitens die Kriegsgefangenenlager, die allerdings erst in den Revolutionskriegen nach 1789 zur Massenerscheinung wurden, und drittens die Arbeitshäuser, in denen Vaganten, Bettler, Prostituierte und Roma stationiert wurden. Ihr Lebenswandel sollte durch Arbeit „sittlich geläutert“ werden.

Postulat der Erziehung

Das Postulat der Erziehung durch Arbeit, ursprünglich ein Produkt der Aufklärung, entwickelte sich in der weiteren Geschichte der Lager zu einem Leitmotiv, das selbst noch in den Konzentrationslagern der Nazis zur Verbrämung diente.

War die zwangsweise Vertreibung von über einer halben Million Bauern im kubanischen Bürgerkrieg Ende des 19. Jahrhunderts und ihre Ansiedlung durch die spanische Kolonialmacht in „Konzentrationspunkten“, also bewachten Lagern, ein Avantgarde-Unternehmen der Lagerbildung? Der Schweizer Historiker Andreas Stucki war skeptisch hinsichtlich der Kontinuität mit der späteren „Wehrdörfer“-Strategie, wie sie sich in den Counter-Insurgency(Aufstandsbekämpfungs)-Strategien des 20. Jahrhunderts von Algerien bis Vietnam zeigte. Diesem Thema war ein eigenes Referat des Schweizers Moritz Feichtinger gewidmet. Dabei wurde deutlich, dass im Konzept der Wehrdörfer stets der ideologische Impetus wirksam war, dort zur „Zivilisierung“ der Internierten beizutragen, sie zu „bessern“. Ein Impetus, der die weißen Überlegenheitsgefühle der Kolonisierer zeigte und ausnahmslos an der Realität zu Schanden wurde.

Der Weg zu den Nazis

Führt ein Weg vom Kolonialkrieg des Deutschen Reiches gegen die Herreros zu den Vernichtungslagern der Nazis? Der in Wien lebende Forscher Jürgen Zimmerer stellte die These auf, dass von Anfang an das deutsche Projekt in „Deutsch-Südwest“ die Errichtung eines hierarchischen Siedlerstaates auf rassischer Grundlage vorsah. Voraussetzung für dessen Errichtung war die vollständige Vernichtung der kulturellen und politischen Eigenständigkeit der Kolonisierten, was nach heutiger Rechtsauffassung den Tatbestand des Völkermordes erfülle.

Diese Form der Beweisführung wurde von einigen Diskussionsteilnehmern als allzu umstandslos kritisiert. Gegen die Vorstellung der nazistischen Konzentrationslager als abgeschlossene Räume entgrenzter Gewalt wandte sich der Berliner Historiker Dieter Wildt. Die KZs waren nach ihm ein gesellschaftliches Projekt. Die Lager in Deutschland, insbesondere die seit 1941 betriebenen Außenlager, waren für jedermann sichtbar, ebenso wie die Kriegsgefangenenlager, deren Insassen massenhaft Hungers starben.

Von Anfang an dominierte die Ideologie der Volksgemeinschaft die Konzepte der Lager. Der Volkskörper musste vor Ansteckung geschätzt werden. Schwere körperliche Arbeit sollte ein Heilmittel sein.Von daher war die Ermordung der Juden eine Konsequenz der Vorstellung von rassischer Homogenität. Massenhafte Zwangsarbeit war das einigende Charakteristikum aller deutschen Lager im Zweiten Weltkrieg. Dennoch müssen wir, so Wildt, ihre unterschiedlichen Formen untersuchen und uns auf Mikrostudien konzentrieren. Also auch hier das Augenmerk aufs Besondere.

Zusammengefasst erbrachte die Tagung eine Fülle guter Einzelanalysen. Ihr Vorhaben, eine transnationale Perspektive zur Genese und Funktion der Lager zu entwerfen, konnte sie freilich nicht einlösen.

CHRISTIAN SEMLER