„Haben Sie die alle selbst gemacht?“

OSTBERLIN Immer unterwegs mit seiner russischen Kamera war Gerd Danigel schon im Ostberlin der 70er/80er Jahre. Heute verkauft er seine Fotos auf dem Flohmarkt am Mauerpark. Endlich ist auch ein Buch erschienen

VON DOLORES KUMMER

Es ist Sonntag 8.30 Uhr, Flohmarkt am Mauerpark. Gerd Danigel kommt spät, schiebt gelassen sein Rad über den Platz und trinkt erst mal einen Kaffee. Seine Kunden sind keine Frühaufsteher. Er muss sich also nicht beeilen. Der 52-Jährige verkauft hier seine eigenen Bilder, Ostberliner Fotos aus den 70er/80er Jahren. Es sind keine Schnappschüsse, sondern Kunstwerke, die den Vergleich mit namhaften Kollegen des ostdeutschen Fotorealismus nicht scheuen müssen, obwohl es der Künstler selbst noch nicht glaubt. Umso erfreulicher, dass ihn jetzt der Lehmstedt-Verlag entdeckte und gleich einen umfangreichen Bildband herausbrachte.

„Haben Sie die alle selbst gemacht?“, fragt eine junge Frau. Sie blickt an seinem Marktstand erst auf die Fotos, dann auf den Mann dahinter. Gerd Danigel, klein, schmal, mit runder Brille und Bärtchen, muss nun gleich die häufigste aller Frage beantworten. Eine Frage, die er immer wieder geduldig bejaht, manchmal 30-, manchmal 80-mal am Tag. Seine Bilder berühren die Besucher, die bröckelnden Häuserfassaden, Endzeitstimmung einer vergehenden Gesellschaft, leere Straßenzüge, direkt hinter der Mauer. Da sind Menschen auf dem Weg zur Arbeit, Schlangen vor den Läden, Kinder, Punker, Arbeiter, Rentner und Soldaten. Menschen, die voller Vertrauen in die Kamera schauen.

„War das mal die Gleimstraße?“, fragt ein Mann. Er wundert sich, dass diese Straße am Ende gar nicht weitergeht. Viele Neuberliner wollen wissen, wie die Häuser einmal aussahen, in denen sie jetzt wohnen. Immer weniger Menschen wissen, wo die Mauer wirklich war.

Fotografie als Projekt

Gerd Danigel wuchs in Berlin-Mitte auf, jetzt lebt er in Pankow. Als Kind zeichnete er gern, doch für den Traumberuf als Designer reichten seine Noten nicht aus, so lernte er Gasmonteur, kaufte sich vom ersten Lehrlingsgeld eine russische Kamera. Damit durchstreifte er den Berliner Osten. In seinem Wohnhaus wohnte einen Stock tiefer der damals schon bekannte Roger Melis. Er erkannte früh das Talent des Jungen und meinte: „Es ist ja sehr schön, was du machst, Gerd, und auch sehr interessant, aber du musst dir Projekte vornehmen.“ Also teilte Gerd sich die Stadt fortan in Abschnitte ein, die er systematisch fotografierte.

So entstanden Bildern von Häusern, Straßen und Plätzen, für die sich sonst keiner interessierte. Seine Neugier führte ihn in die Hinterzimmer von Berlin. Hier traf er oft auf spielende Kinder, sogenannte Schlüsselkinder, deren Eltern arbeiteten und die an einem Bindfaden ihre Wohnungsschlüssel um den Hals trugen. Die Hinterhöfe des damaligen Prenzlauer Bergs waren voller Bäume, Autowracks und Schrott, Abenteuerspielplätze der Ostberliner Kinder. Gerd Danigel positionierte Menschen nie, machte keine gestellten Bilder, sondern blieb immer der Beobachter im Hintergrund, der real wiedergab, was er sah. Damit reihte er sich unter die besten Straßenfotografen der Welt ein. Mehr als 4.000 Filme verknipste er vor der Wende, ausnahmslos in Schwarz-Weiß, entwickelte alles selbst.

„Ich habe jetzt mal in meinen Tagebüchern nachgesehen“, sagt er, „in den frühen 80ern hab ich fast jedes Wochenende 24 Stunden am Stück in der Dunkelkammer verbracht.“ – „War das nicht gefährlich?“, fragt eine Dame, die sich gerade auf dem Flohmarkt ein Mauerbild anschaut. – „Na ja“, sagt Gerd Danigel lächelnd, „ich wurde immer irgendwie von beiden Lagern scharf beäugt. Einige riefen: Eh, du Stasispitzel, verpiss dich! Auf der anderen Seite hatte auch die Polizei ein paarmal meine Personalien aufgeschrieben.“

Keine Bilder an der Mauer

Und weiter: „Keiner wusste so genau: Was macht der da eigentlich. Warum klettert der überall rein? Am Falkplatz stand ich mal mitten im Schnee und hielt gerade mein Teleobjektiv gen Westen, als wie von der Tarantel gestochen ein Polizist auf mich zustürmte: Wenn da jetzt ein Grenzdurchbruch stattfindet, dann sind sie dran!“ 500 Meter vor der Mauer sei das Fotografieren verboten.

All die grenznahen Wunschmotive holte sich Gerd Danigel nach der Maueröffnung, umrundete gleich mehrmals mit dem Rad die eingemauerte Stadt. Er unternahm ein paar Reisen: Italien, Jordanien, Ägypten. Doch die Fotos, die er mitbrachte, waren keine Herzblutbilder mehr.

Am liebsten ist er in Berlin unterwegs, fährt weite Strecken mit dem Fahrrad, fühlt sich wohl auf der Straße, bei den Menschen. Als stiller Beobachter dokumentiert er die aktuellen Momente seiner Heimatstadt. Da war es dann auch nur eine Frage der Zeit, bis er eines Tages auf dem Flohmarkt andere Fotografen traf, und so fand er selbst einen neuen, ganz anderen Anfang für sich und seine Bilder. „Haben sie die alle selbst gemacht?“, fragt gerade wieder jemand und fügt dann noch hinzu: „Toll! Da müssen sie mal ein Buch draus machen!“ Endlich kann Gerd Danigel auch über diese Frage lächeln.

■ Gerd Danigel: „Schöner unsere Paläste! Berlin-Fotografien 1978–1998“. Herausgegeben von Mathias Bertram. 160 Seiten, 24,90 Euro