VORBESTIMMTE TRÄUME ODER DAS RECHT, SICH DAS LEBEN SELBST ZU BASTELN
: Wo Marianne Rosenberg einen Protestsong bestellte

VON DIRK KNIPPHALS

WESTWÄRTS, HO!

Hinter dem Nollendorfplatz, von Schöneberg aus gesehen Richtung Tiergarten, steht ein riesiges weißes Apartmenthaus, das sich, wenn man mal genauer guckt, als eines der seltsamsten Gebäude Berlins erweist. Als langer Riegel erstreckt es sich achtgeschossig längs der Einemstraße. Die oberen beiden Stockwerke sind etwas zurückversetzt, was dem Gebäude zusammen mit der bugähnlichen Schmalfront von einer bestimmten Perspektive aus fast das Aussehen eines Ozeandampfers verleiht. Oder einer etwas überdimensionierten Ferienanlage – Ballermann, Türkische Riviera –, die es aus irgendwelchen Gründen vom Meer ins alte Herz der Stadt Berlin verschlagen hat. Großzügige Balkone und üppig bepflanzte Dachterrassen verstärken diesen Eindruck.

Eine meiner Lieblingsgeschichten über diesen Teil von Schöneberg besagt, dass Marianne Rosenberg einmal in diesem Gebäude gewohnt hat. Matthias Frings hat davon kürzlich in seiner Schernikau-Biografie erzählt. Von dort aus hat die Schlager-Diva, berichtet Frings, die große Anti-Reagan-Demo im Sommer 1982 beobachtet. Im Netz findet sich leicht ein taz-Bericht von der damaligen Straßenschlacht: „Quergestellt, mit Holz und Verkehrschildern garniert und angezündet, entwickeln die brennenden Autos riesige schwarze Rauchwolken, die den ganzen Platz einhüllen. Dazwischen die weiß qualmenden Tränengasgranaten. Vor der Motzstraße liegen die verbrannten Reste einer US-Fahne.“ Marianne Rosenberg, so berichtet Frings, hat dann bei dem Schriftsteller Ronald Schernikau einen Protesttext gegen Reagan bestellt. Unter dem Titel „Er ist ein Star“ wurde der Song tatsächlich produziert; man kann ihn heute allerdings nur noch aus protestarchäologischen Gründen genießen.

Die Geschichte ist deshalb so interessant, weil sie etwas von der mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung genau dieser Ecke für die ganze Bundesrepublik Deutschland enthält. Ich glaube nämlich wirklich, dass hier, in Schöneberg Nord, zu Beginn der Achtzigerjahre ein großer gesellschaftlicher Richtungswechsel durchgekämpft und dann auch vollzogen wurde – aber ganz anders, als die damaligen Protestierer es sich gedacht hatten.

Betonte Lebensqualität

Man muss sich dazu das Haus, in dem die Rosenberg wohnte, einmal richtig ausschauen. Dann kann man die Hipness, die es einmal gehabt haben muss, deutlich erkennen. Es hat etwas durchaus Lebensfrohes. Die schmucklosen Sozialbauriegel der fünfziger und sechziger Jahre, die in Berlin auf den im Zweiten Weltkrieg freigebombten Flächen errichtet worden waren, wollte dieses Gebäude unbedingt hinter sich lassen. Hier ging es nicht mehr in erster Linie um Wohnraumbeschaffung, sondern um betonte Lebensqualität. Dieses Gebäude sollte von einem schönen, umsorgten Leben künden: Geschäfte im Erdgeschoss, Autos in der Tiefgarage, Müll in den Müllschlucker, Sonnenuntergänge auf der Dachterrasse. Nicht nur Marianne Rosenberg fand das damals bestimmt ziemlich modern.

Aber die meisten studentischen Bürgerkinder, die in der Gegend wohnten, haben sich eben für eine Alternative entschieden. Sie wollten keine geplante Rundumversorgung. Stattdessen haben sie die heruntergekommen Gründerzeit- und Jugendstilhäuser der umliegenden Straßenzüge besetzt und dann allmählich mit eigenen Mitteln renoviert und ausgebaut. Und das Recht dazu haben sie in Straßenschlachten verteidigt, deren End- und Höhepunkt irgendwie die 82er-Demo am Nollendorfplatz war.

Wenn man einmal von ganz weit weg guckt – so wie Marianne Rosenberg auf die Demo von ihrem Balkon aus geguckt hat –, dann ging es zu Beginn der achtziger Jahre um die Frage, wie der gesellschaftliche Reichtum des Wirtschaftswunders investiert werden sollte. In hausgewordene Träume vom allerdings vorbestimmten und uniformen Ferienleben mitten in der Großstadt. Oder in das Recht, sich sein Leben selbst zusammenbasteln zu können, wie provisorisch und widerspruchsvoll auch immer. Nicht alle damit verbundenen politischen Blütenträume reiften, aber dieses Recht hat die Hausbesetzerszene von Kreuzberg, Schöneberg (und anderswo) sowie ihr politisiertes Umfeld damals ein für alle Mal durchgekämpft. So wohnen wie in dem langen weißen Haus in der Einemstraße wollte man dann doch nicht.

Auch Marianne Rosenberg ist bald wieder daraus ausgezogen.