Äthiopische Elegien

In „Morgentau“ erzählt der äthiopische Filmemacher Haile Gerima komplex und bildgewaltig vom Leiden seines Geburtslandes

In „Teza“ wird immer wieder deutlich gemacht, wie unerbittlich das private Leben durch die politischen Umstände bestimmt ist.

VON WILFRIED HIPPEN

Am „Mussolini-Berg“ war Anberber als Kind glücklich. Dieser Widerhaken in der Erinnerung des Protagonisten bringt die Methode des äthiopischen Filmemachers Haile Gerima schön auf den Punkt. Der Berg ist eigentlich ein Mahnmal für die Opfer der Gasangriffe, mit denen das italienische Heer 1930 die Zivilbevölkerung von Äthiopien terrorisierten.

Aber für den müden und invaliden Intellektuellen Anberber ist er der idyllische Fluchtpunkt seiner Erinnerungen. In „Teza“ (so der Originaltitel) wird immer deutlich gemacht, wie unerbittlich das private Leben durch die politischen Umstände bestimmt ist, und wenn Gerima das Trauma von Anberber darstellt, erzählt er auch vom Schicksal des Landes.

In den 90er Jahren kehrt Anberber, alt geworden und mit einem amputierten Bein, zurück in sein abgelegenes Heimatdorf in Äthiopien. Seine Mutter bereitet ihm eine festlichen Empfang, doch schon an diesem ersten Abend muss der gefeierte Gast miterleben, wie Milizsoldaten das Dorf überfallen und die jungen Männer mit Gewalt zwangsrekrutieren.

Ein langer und grausamer Bürgerkrieg verwüstet das Land und der heimgekehrte Sohn verliert sich immer mehr in nächtlichen Alpträumen sowie Visionen aus seiner vermeintlich glücklichen Kindheit. Im Dorf wird der weitgereiste Arzt, auf den man soviel Hoffnung gesetzt hatte, bald nur noch als ein humpelnder Sonderling angesehen und eine von seiner Mutter initiierte Reinigungszeremonie weckt alte, schmerzliche Erinnerungen in ihm.

Mit diesen öffnet sich der Film zu einem epischen Panorama der jüngeren äthiopischen Geschichte. 1970 studiert Anberber in Köln Medizin und kämpft in einer Gruppe von Oppositionellen gegen das Regime Haile Selassies. Dessen Sturz sehen sie im deutschen Fernsehen und Anberbers engster Freund Tesfaye kehrt zurück um das Land unter kommunistischer Führung neu aufzubauen.

Bald folgt Anberner ihm voller Idealismus nach. Er wird von dem einflussreichen Freund gefördert und geschützt, doch das neue System entwickelt schnell ähnlich despotische Züge wie das alte und Anberber muss schließlich vor einem Tribunal „Selbstkritik“ üben. Diese rituelle Unterwerfung inszeniert Gerima als ein Stück absurdes Theater, das zu der völligen Desillusionierung von Angerber führt. Anders als sein Freund Tesfaye überlebt er die Säuberungen des Regimes und wird sogar als Mediziner in die DDR geschickt, wo er mit dem Fall der Mauer auch den Bankrott des äthiopischen Sozialismus miterlebt.

Auf seiner ersten Reise zurück nach Äthiopien sieht Anberber an den Straßenwänden, die vorher riesige Abbildungen von Haile Selassie trugen, nun die Portraits von Marx, Engels und Lenin. Haile Gerima hat ein Gespür für solche starke Symbole - ein tropfender Wasserhahn wird bei ihm ein Zeichen äußerster Verzweiflung. Und er ist ein geschickter Erzähler. Die Rückblenden scheinen zwar in der assoziativ, chaotischen Logik von Anberbers Erinnerungen montiert zu sein, folgen aber einer präzisen Dramaturgie.

So ist der Film, der bei der Vielfalt seiner Themen und Stimmungen leicht hätte überladen wirken können, statt dessen einfach zu verstehen und oft erstaunlich spannend. Es gibt zwar ein paar irritierende melodramatische Zuspitzungen (so machen direkt im Anschluss an den Fall der Mauer schon deutsche Rassisten Jagd auf die Afrikaner), aber davon abgesehen ist Haile Gerima hier ein zugleich intimes und episches Drama gelungen.