Aus dem Himmel gesehen

HEIMATDOKU Die Dokumentation „Die Nordsee von oben“ von Silke Schranz und Christian Wüstenberg besteht ausschließlich aus Filmmaterial, das aus einem Helicopter aufgenommen wurde

VON WILFRIED HIPPEN

„Found footage“ ist eine Gattung des experimentellen Kinos, bei der die Filmemacher bereits bestehende Filmaufnahmen montieren und verfremden, sodass aus den schon bestehenden Aufnahmen etwas Neues entsteht. Meist geht es bei diesen Werken entweder um die Texturen des Filmmaterials oder darum, die Mythen des kommerziellen Kinos zu hinterfragen. Nichts dürfte Silke Schranz und Christian Wüstenberg, die sich mit Reisefilme aus Neuseeland und Portugal einen Namen gemacht haben, ferner gelegen haben, als eine lupenreines Werk dieser Gattung zu drehen. Doch nach der gängigen filmtheoretischen Definition des Genres steht „Die Nordsee von oben“ in der Tradition des „found footage-films“ und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob die Filmkünstler sich überhaupt als solche verstehen.

Abgesehen von einigen computeranimierten Landkarten, in denen die jeweilige Reiseroute angezeigt wird, gibt es kein von den Filmemachern selbst gedrehtes Bild in diesem Film. Sie „fanden“ statt dessen Aufnahmen, die von der Firma Vidicom als Auftragsarbeiten von Fernsehsendern und anderen visuellen Medien gemacht wurden. Die Firma arbeitet mit einem Helicopter, an dem eine spezielle Kamera angebracht ist, mit der aus großer Entfernung erstaunlich scharfe Aufnahmen gemacht werden können. Zudem gleicht die Kamera ähnlich wie die steadycam auf den Schultern von vielen Kameramännern die Ruck- und Schüttelbewegungen des Hubschraubers aus, sodass es durchweg Bilder aus einer scheinbar ruhenden Perspektive oder mit angenehm fließende Schwenks gibt.

Auf ihren Flügen an der Nordseeküste entlang haben Peter Bardehle und Klaus Stuhl über 40 Stunden Filmmaterial aufgenommen, das normalerweise in kleinen, meist nur sekundenlangen Häppchen in den Filmbeiträgen von andern benutzt wurde. Die beiden Kameramänner sind es also gewohnt, eher als Zulieferer denn als eigenständige Filmkünstler zu arbeiten, und so ist dies ein Film von Silke Schranz und Christian Wüstenberg geworden, weil sie ein Jahr lang am Schneidetisch 90 Minuten Filmmaterial ausgewählt und montiert haben. Außerdem haben sie es mit Musik, Geräuschen und einem Erzähler versehen, sodass es ein bequem anzusehender, wenn auch konventioneller Reisefilm geworden ist.

Sie haben die Aufnahmen entlang einer imaginierten Reise von Emden nach Sylt geordnet und waren klug genug zu erkennen, dass nur spektakuläre Bilder, auch wenn sie so noch nie gesehen wurden, nicht abendfüllend sind. Viele der Aufnahmen von Küstenlinien, Inseln, Prielen und Wattlandschaften sind atemberaubend und noch nie ist so deutlich gezeigt worden, dass die Nordsee nicht nur mit den Farbvariationen Braun, Grau und Blau aufwarten kann, sondern auch so golden, silbern und türkis schimmern kann wie die Südsee. Aber allzu viel Schönheit ermüdet das Auge, und so mischen die Regisseure viele folkloristische Elemente unter die eher impressionistisch wirkenden Aufnahmen von mäandernden Prielen, Atoll-ähnlichen Inseln und einem durch heftigen Wind (oder die Rotoren des Helicopters) in wilden Mustern wehenden Getreidefeld.

Also gibt es auch viele Leuchttürme, Kutter, einen Hirten der seine Schafe über den Deich treibt und den Briefträger, der die Post auf einer Hallig mit der Lore über einen Damm vom Festland abholt. Dazu viele Vögel, Seehunde und Möwen. Postkartenmotive, die so wohl auch bei den Kameramännern in Auftrag gegeben wurden. Aber dann kommt wieder einer von diesen wahnsinnigen Zooms, bei denen man erkennt, wie hoch der Helicopter tatsächlich über dem Objekt geflogen ist, während die Nahaufnahmen (etwa von einer Formation fliegender Zugvögel) gestochen scharf waren.

Die Filmemacher legen viel wert darauf, dass zumindest die Geräusche von ihnen aufgenommen wurden und so authentisch wie nur möglich sind. Wenn da eine Vogelkundlerin durch den Matsch stapft, ist das Geräusch angeblich genau in dem Naturreservat aufgenommen worden, in (oder besser über) dem die Bildaufnahmen gemacht wurden. Weniger Mühe haben sich die beiden leider mit der Musikuntermalung gemacht, die ein Muzaksalat voller Synthesizermelodien und Klassikzitaten von Mahler bis Satie ist.

Einer der Gründe für den sicher zu erwartenden Erfolg des Films bei den Touristen in der kommenden Hochsaison (die Premiere ist nicht umsonst Anfang Juni) ist der Kommentar, der von Christian Wüstenberg mit einem sehr gewinnenden norddeutschen Zungenschlag eingesprochen wurde. Im Stil eines guten Reiseleiters mischt er Informationen über Meer, Land und Leute mit amüsanten Anekdoten wie jener, dass der Leuchtturm aus der Werbung einer ostfriesischen Biermarke tatsächlich in Nordfriesland steht.

So ist „Die Nordsee von oben“ eine clever gebaute Heimatdokumentation geworden, die alle paar Minuten durch Bilder von fast surrealer Schönheit unterbrochen wird.