Vom Leben der Boheme

ANARCHISMUS Herausragend! Die Tagebücher Erich Mühsams erscheinen erstmals in einer 15-bändigen Werkausgabe

Biografie: geb. 1878 als Kind jüdischer Eltern in Berlin. Aufgewachsen in Lübeck, Vater Apotheker. Ab 1909 in München-Schwabing. Führende Beteiligung an der Münchner Räterepublik. 1933 verschleppt, am 10. Juli 1934 von der SS im KZ Oranienburg ermordet.

Tagebücher: Von 1910 bis 1924 führte Mühsam Tagebuch. Band 1 (1910/11) erscheint nun im Berliner Verbrecher Verlag (352 Seiten, 28 Euro), herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens. 14 weitere Bände sollen folgen.

Veranstaltung: 14. 7., 20 Uhr, Brecht-Haus, Berlin. Mit Salli Sallmann und Sepp Bierbichler.

VON ANDREAS FANIZADEH

Heut früh kam ich erst um 1/2 8 Uhr nach Hause. Ich war vom ‚Simpl.‘ aus mit Uli und Seewald, Strich und Lotte, Emmy, Morax und Alwa (Schwirzer) zu Uli aufs Atelier gegangen, wo die anderen sehr viel Schnaps tranken und dadurch in eine Stimmung kamen, die ich durch Zusehen und Mitreden künstlich in mir erzeugen musste. Lotte und Emmy küßten sich maßlos. Dadurch wurde eine angenehm erotische Atmosphäre geschaffen. Dann wurde Uli lebhaft und tanzte zum Wahnsinnigwerden schön. Wenn ich Uli so sehe, dann vergesse ich alles in der Welt und vergehe vor Liebe zu ihr. – Um 6 Uhr langten wir in Café Bauer an, nachdem Lotte und Emmy (Uli war mit Seewald zu Hause geblieben) auf der Straße den unglaublichsten Unsinn getrieben hatten.“

Erich Mühsam notierte diese Begebenheit in München am 28. Mai 1911. Er hatte mit dem Tagebuchschreiben im August 1910 begonnen, anlässlich eines Kuraufenthalts in Château d’Oex, Schweiz. Der damals 32-jährige Anarchist litt 1910 unter Herzbeschwerden, war geschwächt von Alkohol-, Nikotin- und Kaffeekonsum. In den Schweizer Bergen sollte er sich auch auf Wunsch seines Elternhauses erholen, von dem er finanziell abhängig war. Doch langweilte er sich zunächst sehr. Die Schweizer Berge sind ihm eng, Briefe und Zeitungen erreichen ihn nur verzögert. Mühsam war gerade der Hochverratsprozess in München gemacht worden, und zusätzlich ärgerte er sich über einen Text seines Mentors Gustav Landauer, den er als paternalistische Kritik am ausschweifenden Leben der Boheme verstand.

Wertvoll und schön

Doch war sein intellektuelles Selbstbewusstsein ungebrochen. Am 28.August 1910 notiert er in sein Tagebuch in Château d’Oex: „Ferner las ich Hans die erste Hälfte des Gefängnistagebuchs vor. Ich sehe ein, daß das zum Besten gehört, was ich je geschrieben habe.“ Mühsam war zu dieser Zeit bereits ein bekannter Agitator und Schriftsteller. Er kritisierte in Zeichnungen und Gedichten Preußentum und Wilhelminismus, schrieb Chansons und war mit Künstlern und Schauspielerinnen befreundet. Neben den sozialrevolutionären Kreisen fühlte er sich Autoren wie Frank Wedekind, Heinrich Mann oder Lionel Feuchtwanger verbunden. In seiner ab 1911 erscheinenden Zeitschrift Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit postulierte er die Einheit von subproletarischen und künstlerischen Linken.

Doch von Politik ist in dem ersten nun vorliegenden Band 1910/1911 – insgesamt sollen weitere 14 erscheinen! – vordergründig kaum die Rede. Der Schriftsteller Mühsam durfte über das klandestine anarchistische Netzwerk kaum Vertrauliches ausplaudern, vertrat aber sicher auch die These, dass das Private politisch und von daher berichtenswert sei. Und so sind diese Tagebücher vor allem eine außergewöhnliche Sittengeschichte, die die Weite des damaligen anarchistischen Denkens deutlich machen. Mühsam hatte Humor, musste einstecken, wusste aber auch auszuteilen. („Aber ich liebe diesen Hermann Hesse nicht. Schon sein Stil ist mir unerträglich. Er sucht Kühnheiten. Er schleimt. Er salbadert. Und ganz grauenhaft ist es mir, daß er mitten in der Erzählung anfängt, seine persönliche Meinung über die Probleme, die da angeschnitten werden, kundzutun. Wie häßlich! Wie unkünstlerisch! – Dabei hat seine Prosa überall diesen verdächtigen Erdgeruch, vielmehr Erdparfüm der Heimatkünstler.“)

Über den Anthroposophen Rudolf Steiner merkt Mühsam bissig an: „Bis der Vortrag zu Ende war, mußten wir vor der Saaltür antichambrieren und ich hörte dumpf von außen die hohle dröhnende Stimme, des hohlen dröhnenden Steiners, den ich seit 5–6 Jahren nicht mehr gesehen habe.“ Position und Haltung suchte Mühsam in direkter Auseinandersetzung mit anderen Intellektuellen. Die bevorzugten Schauplätze sind Wirtshäuser, Theatersäle und Kunstausstellungen. Mühsam zeichnete auch selber und verehrte den Schweizer Maler Ferdinand Hodler. Dessen Gemälde „Die Nacht“ hatte 1889 einen Skandal verursacht. Mühsam notiert 1910 in sein Tagebuch: „Eine Anzahl Hodlers machten großen Eindruck auf mich – besonders Die Nacht, die ich vor einigen Jahren schon in Berlin gesehen hatte.“ Und im Juni 1911 anlässlich einer Ausstellung in München: „Hodler ist für mein Gefühl der tiefste aller lebenden Maler. Er ist der einzige, der Ekstasen gestalten kann.“

Mühsam war kein eitler Schwätzer, sondern agierte mit den Selbstermächtigungstricks des Außenseiters. Seine Positionen waren mit Haltungen unterlegt, die er präzise und leidenschaftlich ausführen konnte. Spießer waren ihm ein Gräuel, doch konnte er Respekt vor einem abstinenzlerischen, vegetarisch-proletarischen Arbeiterhaushalt aufbringen, ohne selbst allzu lange auf Alkohol oder Fleisch zu verzichten. Er war kein engstirniger Dogmatiker, konnte ebenso mit Heinrich Mann parlieren wie die revolutionären Massen aufpeitschen. Wenn er über Geld verfügte, verschenkte er es, war er pleite, schnorrte er. Er war verliebt in einen Mann, verklärte die lumpenproletarische Emmy, die er gegen Angriffe von Else Lasker-Schüler verteidigte. Die Schwabinger Boheme propagierte die sexuelle Freizügigkeit, wenn auch Mühsam, der 1915 schließlich heiratete, berichtet, auch das Gefühl der Eifersucht zu kennen.

Mühsam mochte keine Heldenverehrung und ist in den Tagebüchern sehr darauf bedacht, sich selbst erst gar keinen Sockel zu errichten. In Einstreuungen bedenkt er die kriecherische deutsche Sozialdemokratie, mehr aber noch spricht er über seinen permanenten Geldmangel und eine schmerzhafte Geschlechtskrankheit im Jahre 1911. Doch ist Mühsams antiautoritäre Offenheit im Prinzip ein auf Verfeinerung abzielendes Schwärmertum, gegen die Rohheit des Wilhelminismus und den bürgerlichen Arbeitsethos gerichtet: „Heute früh las mir Johannes aus einer Jean-Paul-Biographie seines Neffen Spatzli Briefe an Otto vor, darunter den über die erste Begegnung mit Goethe. Dann einen Auszug aus dem prachtvollen Brief Charlottes von Kalb an Jean Paul über die Liebesfreiheit der Frauen. Sehr wertvoll und schön.“

Mühsams Tagebücher umfassen die Jahre 1910 bis 1924 und wurden zum allergrößten Teil noch nie publiziert

Unsagbare Prügel

Ein Schwärmertum, das sich allerdings wesentlich über seinen Vater finanzierte. Mühsams Genörgel über dessen Engherzigkeit hört sich mitunter nach den Sprüchen eines verwöhnten Bengels an, doch ist die Ablehnung der wilhelminisch-väterlichen Erziehung der Ausgangspunkt: „Es steigt etwas Haß in mir auf, wenn ich daran zurückdenke, wenn ich mir die unsagbaren Prügel vergegenwärtige, mit denen alles, was an natürlicher Regung in mir war, herausgeprügelt werden sollte“, notiert er 1910. Und an anderer Stelle: „Erst wenn es wirklich zu spät ist, werden sie aufhören sparsam zu sein. Es ist widerlich, aber es ist Tatsache: die einzige Möglichkeit, daß ich leben könnte, wäre, wenn mein Vater stürbe.“

Mühsams Tagebücher umfassen die Jahre 1910 bis 1924 und wurden zum allergrößten Teil noch nie publiziert. Sie sind ein kulturgeschichtlicher Schatz und das literarische Vermächtnis des 1934 von den Nazis Ermordeten. Band 1 erzählt von der subkulturellen Radikalität der früheren Boheme, die sich auch im Praktizieren anderer Lebensformen unmittelbar versuchte. Man darf annehmen, dass der Ton der Tagebücher mit dem Ersten Weltkrieg, der Revolution und der Festungshaft schärfer werden wird. Mühsams Ehefrau Kreszentia „Zenzl“ Elfinger konnte bis auf vier frühe Exemplare die Tagebücher vor den Nazis retten, übergab sie aber später den Stalinisten in der Sowjetunion, die Elfinger zum Dank ins Gulag schickten.

Was die Schwabinger Boheme spielerisch karikierte und ausprobierte, wurde vor dem Hintergrund von Wilhelminismus und Erstem Weltkrieg blutiger Ernst. In München wurde 1919 die Räterepublik ausgerufen und von verrohten Freikorpstruppen niedergeschlagen. Mühsam überlebte in Haft. Viele Frauen wurden von den Freikorpsverbänden vergewaltigt und Gustav Landauer wurde grausam umgebracht, nachdem lanciert worden war, er und Mühsam hätten die Kollektivierung der Frauen beschlossen, um sie sich sexuell untertan zu machen. Es waren Wahngebilde, die so ziemlich das Gegenteil beschreiben, um die es Mühsam 1910/11 inmitten der Schwabinger Boheme ging.