Roman von Elisabeth Filhol: Starren auf geborstene Reaktorhüllen

Bevor Elisabeth Filhol Erfolgsautorin wurde, war sie Finanzprüferin. Ihr Roman "Der Reaktor" stößt in die Lücke, die Fukushima hinterlassen hat.

Ein Blau, das ein Künstler erfunden haben könnte: Blick in einen offenen Reaktor. Bild: dpa

An einer Stelle dieses Romans erzählt Elisabeth Filhol vom Tscherenkow-Effekt. Das ist eine physikalische Reaktion, die bewirkt, dass das Wasser in den Tauchbecken von Atomreaktoren von einem ganz besonderen Blau ist - "ein intensives Blau, beinahe übernatürlich, das jedoch weder künstlich erzeugt wird noch Fiktion ist, das Blau des Himmels über der Kasbah, leuchtend, von innen verklärt, ein Blau, das ein Künstler erfunden haben könnte".

Und genauso wie bei der Beschreibung dieses Blaus, das umso intensiver leuchtet, je höher die Radioaktivität um den Brennstoffbehälter ist, vermischen sich bei der Erklärung dieses Effekts physikalische Exaktheit und literarische Ausdrucksstärke: "… weiterhin spalten sich Radionuklide und setzen Strahlung frei. Unter anderem Partikel, die stark energiegeladen sind, die die Wände des Behälters durchdringen und mit dem Wasser des Beckens in einer Geschwindigkeit reagieren, die höher ist als die Geschwindigkeit des Lichts im Wasser - aber dennoch niedriger als die Geschwindigkeit des Lichts im leeren Raum. Auf dem Weg dieser Partikel wird ein Lichteffekt erzeugt, ähnlich dem Toneffekt, der das Durchbrechen der Schallmauer begleitet. Ihr Eindringen löst eine Schockwelle aus. In der Luft ist das der charakteristische Knall der Überschallflugzeuge. Im Wasser ist es ein Lichtblitz im Farbspektrum von Blau und Ultraviolett."

Ein Blau, das mit einer Schockwelle von Lichtblitzen die Lichtmauer durchbricht! Das ist nicht die einzige Stelle, in der dieser Roman einen die Vorgänge in einem Atomreaktor mit ganz anderen Augen sehen lässt.

Elisabeth Filhol wurde 1965 geboren. Dies ist ihr erster Roman. Bevor sie mit Schreiben anfing, hat sie andere Sachen gemacht: Buchprüfung, Finanzverwaltung, auch - was dann für die Handlung des Buches insofern von Bedeutung sein wird, als sie eine von Gewerkschaften nicht mehr kontrollierbare Arbeitswelt beschreibt - Gewerkschaftsarbeit. So weit der Klappentext.

Was diesen 120 Seiten schmalen und literarisch hoch konzentrierten Roman besonders macht, ist seine Unerschrockenheit. Elisabeth Filhol schildert die Arbeit und den Alltag von Leiharbeitern, die angeheuert werden, um das Innere von französischen Atomreaktoren regelmäßig von der dort unvermeidlich stattfindenden Kontaminierung durch radioaktive Partikel zu reinigen. Der Reaktor wird heruntergefahren. Die Männer schlüpfen in ihre Schutzanzüge, passieren diverse Luftschleusen, betreten die Räume des sonst hermetisch abgeriegelten Primärkreislaufs der Kraftwerke und schrubben die Wände, Rohre und Böden.

Eine gewisse Verstrahlung ist dabei unvermeidlich. Die Männer minimieren sie, indem sie sich gruppenweise aufteilen und immer nur kurze Zeit in diesen Räumen bleiben. Alle Männer tragen Dosimeter. Innerhalb von zwölf Monaten dürfen sie eine Strahlung von 20 Millisievert aufnehmen. Ist diese Dosis überschritten, werden die Arbeiter für den Rest der zwölf Monate gesperrt und müssen sich eine andere Arbeit suchen. Pech hat, wer diese Dosis schon früh erreicht. Der hat sein Kapital früh aufgebraucht. Es gibt genug andere, die ihn ersetzen können.

Warum nimmt man so eine Arbeit an? Das ist neben den Vorgängen in den Kraftwerken die andere Ebene, die diesen Roman ausmacht. Elisabeth Filhol beschreibt die männliche Arbeitswelt der Leiharbeiter - wie sie nomadenhaft von Kraftwerk zu Kraftwerk ziehen, wie sie in Wohnwagen schlafen und vom "Herzen des Reaktors", dem Zentrum, dem Primärkreislauf, irgendwo auch fasziniert sind.

Elisabeth Filhol macht dabei nicht auf psychologischen Realismus. Sie beschreibt Phänomene: mit welcher Art von Müdigkeit der menschliche Körper auf eine erhöhte Strahlenbelastung reagiert, wie sich der Stress der ständigen Gefahr auf die Gruppendynamik der Leiharbeiter auswirkt, wie sie ihr Sozialverhalten bestimmt.

Man liest dieses Buch mit Bewunderung. Darüber hinaus ist es vielleicht auch schlicht so, dass es derzeit in eine Lücke stößt, die Fukushima hinterlassen hat. Der Roman wurde vor dem GAU in dem japanischen Kernkraftwerk geschrieben, aber man bezieht es beim Lesen unwillkürlich darauf. Man starrte bei dieser Katastrophe andauernd von außen hilflos auf geborstene Reaktorhüllen. Elisabeth Filhol bringt einen jetzt ins Zentrum des Reaktors.

Elisabeth Filhol: "Der Reaktor". Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2011. 122 Seiten, 16 Euro

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