„Er braucht lange, um zu verstehen“

TRAUMATISCH Der libanesische Schriftsteller Elias Khoury über seinen Roman „Yalo“, libanesische Bürgerkriege und den Aufbruch im Nahen Osten

■ Der Autor: geboren 1948 in Beirut ist er einer der bekanntesten Autoren der arabischen Welt. Mit seinem Roman „Das Tor zur Sonne“ (verfilmt 2004) wurde er international bekannt.

■ Das Buch: „Yalo“ (aus dem Arabischen von Leila Chammaa, Suhrkamp 2011) erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der, durch Bürgerkriegs- und Gewalterfahrung geprägt, nach dem Krieg als Räuber und Vergewaltiger sein Unwesen treibt. Im Gefängnis wird er misshandelt, wobei ein Teil der Folter darin besteht, seine eigene Geschichte immer wieder neu zu schreiben.

INTERVIEW KATHARINA GRANZIN

taz: Herr Khoury, ich fand es der Gewaltszenen wegen manchmal sehr schwierig, Ihren Roman zu lesen.

Elias Khoury: Das tut mir leid. „Yalo“ wurde in Beirut 2003 veröffentlicht. Alle Foltertechniken, die darin vorkommen, sind dokumentiert. Ich habe nichts erfunden. Aber hätte ich mitbedacht, dass das Buch jemals übersetzt werden könnte, hätte ich vielleicht manches abgekürzt. Ihre Reaktion zum Beispiel habe ich auch bei einer guten Freundin erlebt, meiner schwedischen Übersetzerin. Sie hat bisher alle meine Bücher übersetzt; aber diesmal hat sie gesagt, sie könne das nicht. Ich kann das verstehen. Aber als das Buch in Beirut herauskam, war es wichtig, es genau so zu schreiben, da das, was darin passiert, genau damals in der Realität geschah.

Und trotz allem hat der Roman einen Schluss, der eine Perspektive eröffnet. Ihre Hauptfigur Yalo beschließt, einen Roman zu schreiben. Und zwar nicht über sich selbst, sondern über seine Mutter.

Ja, über eine Frau! Yalo entdeckt im Gefängnis, dass er, um tief in seine eigene Geschichte einsteigen zu können, zuerst die Geschichte seiner Mutter verstehen muss. Das ist übrigens meine ganz persönliche Überzeugung: Eines der Hauptanliegen von Literatur muss es sein, die Sprache zu feminisieren.

Inwieweit hat sich der politische Hintergrund im Libanon verändert, seit 2003 der Roman herauskam?

Thema des Romans ist die Unterdrückungsmaschinerie, die Menschen gegeneinander einsetzen können. Daran hat sich nicht viel geändert. Dass der Unterdrückungsapparat in Ägypten und Tunesien schon gefallen ist, gibt Hoffnung. Aber wir sind noch weit vom Ziel entfernt.

Gibt es im Libanon einen öffentlichen Diskurs über die Folgen des Bürgerkriegs?

Es gibt Diskussionen; aber nur außerhalb des Establishments, das von den alten Warlords kontrolliert wird.

Haben Sie als Schriftsteller die Freiheit, alles zu veröffentlichen, was Sie wollen?

Es gibt keine direkte politische Zensur im Libanon. Manchmal werden Bücher aber nach Erscheinen zensiert, aus religiösen Gründen.

Aus islamischer oder christlicher Richtung?

Von beiden. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Meine Bücher jedenfalls sind im Libanon nie zensiert worden, aber anderswo in der arabischen Welt schon. Zensur in der arabischen Welt ist sehr zynisch. Sie verbieten das Buch nicht direkt. Es erscheint einfach nicht. Der einzige Staat, der „Yalo“ offiziell zensiert hat, war Jordanien. Wegen Sex! In vielen arabischen Staaten ist das Buch aber erst gar nicht erschienen, ganz ohne Begründung. Trotzdem werde ich dort gelesen. Man kann Bücher leicht schmuggeln. Ich bekomme viele Briefe von Lesern aus anderen arabischen Ländern.

Yalo und seine Familie gehören einer speziellen christlichen Minderheit an. Sie selber gehören zur syrisch-aramäischen Minderheit im Libanon. Welche Rolle spielt „Herkunftfür Ihren Roman?

Das müssen Sie Gott fragen. Schreiben funktioniert nicht so. Einen Roman zu schreiben, das ist nicht zu vergleichen mit dem Schreiben eines Filmskripts. Da denkt man mehr an die logischen Zusammenhänge. Die Geschichte, die mich interessierte, war ursprünglich die von Yalos Großvater. Sein Dorf ist zerstört worden, seine Familie ermordet, er wird von einem muslimischen Kurden aufgezogen und wird selbst Muslim. Später holt sein Onkel ihn zurück, worauf er nach Beirut geht und wieder Christ wird.

Traumatische Ereignisse und Verbrechen, die zu Identitätswechseln führen und mit denen Yalo nicht fertig wird?

„Wir wünschen uns im Libanon sehr, dass die Syrer endlich mit diesem Regime aufräumen“

Ja, das ist sein Problem. Er braucht lange, um das zu verstehen.

Der Libanon und seine Bürgerkriege waren sehr stark beeinflusst von der Politik des großen Nachbarn Syrien. Was hört man im Libanon heute von den Unruhen in Syrien?

Über Facebook bekommt man viel mit. Wir wünschen uns sehr, dass die Syrer endlich mit diesem Regime aufräumen. Ich bin sehr beeindruckt, wie die Menschen sich dieser Tötungsmaschinerie entgegenstellen.

Welche Konsequenzen hätte es für den Libanon, wenn das syrische Regime fiele?

Libanon und Syrien als zwei kooperierende demokratische Staaten wären zusammen eine einflussreiche Regionalmacht. Wir sind praktisch eine Nation, wir sprechen denselben Dialekt, haben dieselben kulturellen Traditionen. Eine neue demokratische Welle auf der Syrien-Libanon-Palästina-Achse würde auch die Perspektive auf die palästinensische Frage ändern. Auch Israel würde verstehen müssen, dass eine echte Lösung gefunden werden muss.

Der Westen verhält sich gegenüber den arabischen Regimen und den Protestbewegungen uneindeutig. Was glauben Sie: Wie stehen die westlichen Großmächte zur Entwicklung in Syrien, tun sie genug, um die dortige Demokratiebewegungen zu unterstützen?

Die amerikanische Haltung zu Syrien ist sehr unklar. Sie versuchen Druck auf das Regime auszuüben und haben gleichzeitig Angst, dass es fallen könnte. Die Franzosen haben Ben Ali in Tunesien bis zum letzten Moment unterstützt. Das ist kein Zufall, sondern hängt zusammen mit dieser dummen Islamophobie. Sie haben geglaubt, dass die Araber nur entweder unter einer Diktatur oder unter dem Islamismus leben können. Aber wir können sein wie jedermann! Wie Menschen, wie ganz normale Bürger!

Warum blieb es angesichts des arabischen Frühlings im Libanon bislang so ruhig?

Wir haben hier eine sehr komplizierte Machtbalance. Und die Libanesen tun gut daran, ruhig zu bleiben. Sie müssen den Mund halten, bis sie wissen, wohin die Region als ganze steuert.

Als arabischer Autor werden Sie wahrscheinlich permanent mit politischen Fragen konfrontiert. Ist Ihnen das lästig?

Ich mag es nicht, aber ich antworte, wenn ihr darauf besteht. Natürlich fühle ich mich als Teil des Kampfes für Demokratie. Aber ich bin kein Politiker! Ein Autor oder ein Intellektueller muss unabhängig von der Macht sein. Wenn Sie mich fragen würden, wer regieren soll, könnte ich darauf keine Antwort geben.

„Man kann Bücher leicht schmuggeln. Ich bekomme viele Briefe aus anderen arabischen Ländern“

Ihr Schreiben ist allerdings sehr von politischen Kontexten beeinflusst?

In einer Situation wie meiner kann man nicht anders. Ich habe während des Bürgerkriegs mit dem Schreiben begonnen. Damals habe ich gelernt, mit den Toten zu leben, mit den Toten zu sprechen. Davon ist meine literarische Welt stark beeinflusst.

Eine andere Besonderheit Ihres Werks liegt darin, dass Sie Ihre Geschichten von verschiedenen Seiten her erzählen, fern von jedem chronologischen Erzählen. Woher rührt das?

Erstens finde ich, dass dies die realistische Art zu schreiben ist. Chronologisches Erzählen ist nicht realistisch, sondern eine Fabrikation. Außerdem hängt es zusammen mit meiner Faszination von „1001 Nacht“. Darin gibt es Erzählketten, Erzählkreise; Geschichten, die parallel laufen, und andere, die man nur versteht, wenn man eine weitere Geschichte gelesen hat. Eine Erzählung ist niemals nur eine Erzählung, das ist es, was ich versuche zu vermitteln. Ich habe diese Technik entwickelt, als ich vor Jahren meinen zweiten Roman schrieb, „Der kleine Berg“. Er ist nie ins Deutsche übersetzt worden. Als er auf Englisch erscheinen sollte, gab man ihn Edward Said zu lesen, der dann – damals waren wir noch nicht befreundet – das Vorwort dazu schrieb. Er schrieb, dies sei ein Roman der Postmoderne. Und ich hatte diesen Begriff noch nie gehört! Ich lese viel russische Literatur, Tolstoi, vor allem Dostojewski. Ich selbst schreibe völlig anders. Aber Dostojewskis Zugang zur menschlichen Seele ist außergewöhnlich. Der schönste Roman, der je geschrieben wurde, ist meiner Ansicht nach „Der Idiot“. Und das erste Buch, das ich wirklich liebte, war „Der Fremde“ von Camus.

Sie beziehen also Ihre Einflüsse auch aus der europäischen und internationalen Geistesgeschichte. Repräsentieren Sie den typischen libanesischen Kosmopolitismus?

Diese Einflüsse sind in der gesamten arabischen Welt präsent. Ja, der Libanon hat wohl diese größere Offenheit gegenüber der westlichen Kultur. Aber ich denke, eben darin besteht das Wesen der Literatur. Literatur kann nichts anderes sein als eine Kombination verschiedener kultureller Identitäten. Eine nationale Identität kann es in der Literatur nicht geben. Das wäre der Idee von Kunst geradezu entgegengesetzt.