Hunger auf die eigene Wirklichkeit des Romans

LESEN Über auktoriale Manöver und das Bewusstsein, dass etwas Bedeutsames auf dem Spiel steht: „Die Kunst des Erzählens“ von James Wood ist eine lohnende Lockerungsübung in Sachen Literaturkritik

Ein Roman ist gescheitert, wenn er es uns nicht beibrachte, uns auf seine Regeln einzustellen. Punktum

VON DIRK KNIPPHALS

Lange kein Buch mehr gesehen, das so viel Lust darauf macht, Romane zu lesen, wie dieses. James Wood schreibt über Flaubert: „Die Romanautoren sollten Flaubert danken wie die Lyriker dem Frühling: Mit ihm beginnt alles.“ Und bald darauf möchte man ins Bücherregal greifen und bei „Madame Bovary“ und der „Erziehung des Herzens“ nachlesen, wie es sich mit der Bedeutung der Details verhält, wie mit dem Autor, der sich gottgleich in seiner Schöpfung verbergen muss, und wie mit dem modernen Helden, der nichts anderes tut, als die Straße entlangzulaufen, herumzuschauen und zu denken.

Oder James Wood schreibt über Jane Austen und ihre Fähigkeit, in Beschreibungen kleine spitze Kommentare über ihre Figuren einzubauen, indem sie für einen kurzen Moment die Tonlage ändert. In der Analyse solcher auktorialen Manöver ist Wood ein Meister. Und gleich hat man Lust, Jane Austen mit in den Urlaub zu nehmen.

Bei der Gegenwartsliteratur werden solche Beispiele weniger – David Foster Wallace etwa ist James Wood auf Dauer zu ermüdend. Aber auch hier finden sich inspirierende Anmerkungen. So gelingt es James Wood mühelos, die besondere Fähigkeit eines Autors wie Philip Roth aufzuschließen: Sie liegt für ihn darin, dass er besonders dreckige und in diesem Dreckigsein besonders lebendig wirkende Sätze schreiben kann. Sogleich belegt Wood das schlagend mit einem Satz aus „Sabbaths Theater“, in dem nebeneinander das Saugen an strotzenden Brüsten, die Milchstraße, Tintorettos auf dem Bauch liegende Juno und die Sehnsucht nach der verstorbenen Mutter vorkommen. Es stimmt: Philip Roth’ Sätze sind wirklich besonders dreckig! Schon steht wieder mal Roth auf dem Lesezettel.

James Wood, 1965 geboren, ist Literaturkritiker für den New Yorker. Sein aus 123 Kurzkapiteln zusammengesetztes Buch „Die Kunst des Erzählens“ präsentiert keine wirklich neue Sichtweise – im Unterschied zu David Shields’ Studie „Reality Hunger“, die die Trennung zwischen Literatur und Sachbuch systematisch untergräbt, oder zu Mark McGurls noch nicht ins Deutsche übersetzte Buch „The Program Era“, das sich, ausgehend von Creative-Writing-Programmen, an eine Neuvermessung der Literaturgeschichte der Gegenwart macht.

Aber Wood präsentiert eine Vielzahl schlagender Einsichten über Literatur. In Deutschland, wo die Kampagnen zur Leseförderung gerne allzu bildungsbeflissen ausfallen und sich die Autorenverehrung in überlaufenen Lesefestivals, aber keineswegs in differenzierten textorientierten Debatten niederschlägt, ist es zudem eine willkommene Lockerungsübung. Mindestens so viel wie über das Erzählen geht es in ihm um eine Kunst des Lesens.

Das Buch ist auch so etwas wie das fehlende stilorientierte Gegenstück zu Richard Kämmerlings’ Überblicksbuch „Das kurze Glück der Gegenwart“, das die deutsche Literaturkritik gerade von ihren Nachkriegsproblemlagen freistrampeln möchte. Über eine Wood-These würde sich zwischen ihm und Kämmerlings noch Einigkeit herstellen lassen: darüber, dass die Vitalität einer literarischen Figur weder allein mit einer dramatischen Handlung oder mit rein realistischer Plausibilität zu tun hat, sondern „mit unserem Bewusstsein, dass die Handlungen einer Figur zutiefst wichtig sind oder etwas Bedeutsames auf dem Spiel steht“. Nur dass Kämmerlings diese Wichtigkeit an dem behandelten Thema (Afghanistan, Finanzkrise, neue Familienformen) festmacht, Wood aber konsequent an der Art und Weise, wie der Roman gemacht wurde.

Ein Roman ist für Woods dann gescheitert, „wenn er es uns nicht beibrachte, uns auf seine Regeln einzustellen, wenn er es nicht verstand, einen spezifischen Hunger auf seine eigenen Figuren, seine eigene Wirklichkeit zu wecken“. Punktum. Das Thema ist ihm als Bewertungskriterium schlicht zweitrangig.

Sehr interessant ist dann noch, wie Wood den Gegensatz zwischen realistischer und experimenteller Literatur einebnet. In Deutschland wird dem Realismus oft ein Moment von Hegemonie und zugleich von Naivität und Affirmation unterstellt. James Woods Leidenschaft schlägt nun zwar eher für die realistische Tradition, aber insgesamt setzt er auf etwas Übergeordnetes: auf ein „Verlangen, wahrhaftig über das Leben zu schreiben […], ein Werk zu schaffen, das genau sieht, wie die Dinge sich verhalten“. Dies sieht er als universelles literarisches Projekt. Mit welchen sprachlichen Mitteln und auktorialen Manövern es dann auch immer vorangetrieben wird.

Und an denen entscheidet sich im Einzelfall, darin bestärkt einen Wood unbedingt, erst der Spaß des Lesens und der Gewinn daran.

James Wood: „Die Kunst des Erzählens“. Aus dem Englischen von Imma Klemm. Rowohlt, Reinbek 2011. 238 Seiten, 19,95 Euro