Das Kommando Karl Martell

RADIKAL Wer bedroht Lutfi Latif, den Obama von Kreuzberg? Yassin Musharbashs Roman „Radikal“ handelt von Islamisten und islamophoben Aktivisten. Vom geheimen „Kommando Karl Martell“ erzählt unser Auszug

War das hier der Nukleus einer militanten Organisation, die einen Massenmord auf dem Gewissen hatte?

VON YASSIN MUSHARBASH

Das Kommando Karl Martell fand fast an jedem Abend zusammen, wie er schnell feststellte. Und fast immer waren sie dabei zu neunt, ihn selbst eingeschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass der Kreis der Verschwörer größer war. Aber es gab zusätzlich unregelmäßige Zusammenkünfte in kleineren Gruppen an denkbar unterschiedlichen Orten, je nachdem, wer einen speziellen Auftrag angenommen hatte, der nun vorbereitet und umgesetzt werden musste.

Samson hatte gleich zu Beginn signalisiert, dass er viel Zeit hatte und dass niemand ihn zu irgendeiner Tageszeit vermissen würde. Das Kommando machte von seiner Verfügbarkeit dankbar Gebrauch, und die einzelnen Mitglieder hatten keine Scheu, ihn für ihre Aktionen einzuspannen. So kam es vor, dass er sich an einem Morgen in einem Ikea-Restaurant in Spandau zu einer Besprechung mit Peacemaker und Q einfand, bevor sie einander wenige Stunden später in der großen Runde wiedersahen. Am Tag darauf weihte ihn mittags Chevalier in der Zentrale in ein neues Vorhaben ein, am Abend gab es dann wieder eine Zusammenkunft in voller Stärke. Am Tag darauf traf er sich mittags mit Ricardo und Q in einem Einkaufszentrum in Köpenick, und am Abend: alle zusammen erneut in der Zentrale. Nur nachts, wenn auch die letzte Aktion gelaufen war, war Samson allein. Doch dann ließen die Bilder ihn keinen Schlaf finden, sodass er meist erst im Morgengrauen, nass geschwitzt und erschöpft, in eine Art Dämmerzustand fand.

Brennender Koran

Und was für Bilder waren das, die ihn nicht schlafen ließen? Renatus zum Beispiel, wie er, hysterisch lachend, die riesige mit Schweineblut gefüllte Wasserpistole über dem Eingangsportal der Moschee am Columbiadamm entleerte, während Samson Schmiere stand. Oder Matthäus und Peacemaker, nach allem, was Samson ausmachen konnte, ein Ehepaar, die der klandestinen Atmosphäre im Kommando Karl Martell und den nächtlichen Aktionen offenbar eine erotische Seite abgewannen und einander ständig abknutschten, und die den anderen Mitgliedern abends in der Zentrale ein Video vorspielten, das sie dabei zeigte, wie sie mit vermummten Gesichtern in ihrer Laube in Treptow einen Stapel Korane verbrannten und die Runde nun um Vorschläge baten, über welche Webseiten sich das Material am besten und effektivsten verbreiten ließe?

Oder Missy, die meistens beschwörend in ein Telefon sprach und seiner Vermutung sowie den aufgeschnappten Konversationsfetzen zufolge damit befasst war, die Entstehung neuer und die Expansion existierender Salons zu koordinieren.

Und dann war da natürlich noch Widukind, der sich niemals selbst die Hände schmutzig zu machen schien, aber immer die richtigen Worte fand, um die anderen anzustacheln, mit der Aura eines zu hoch gewachsenen Napoleons, der Mann mit dem Überblick, der Mann, der die Vorgaben machte, hier ein Schulterklopfen, dort ein aufmunternder Blick, der Mann, der die Urteile fällte: Das war eine gute Aktion. Aber so was hier, das machen wir nicht noch einmal.

Die Zentrale befand sich in einem abgeschiedenen, stillgelegten Schulhaus am Stadtrand von Potsdam, idyllisch an einem See gelegen, die Fassade ganz mit rotem Klinker überzogen. Von außen hatte es den Anschein, als sei das Gebäude dem allmählichen Verfall preisgegeben. Im Inneren jedoch war es nach dem neuesten und edelsten Standard ausgebaut. Im Erdgeschoss fand sich eine weiträumige Küche, komplett in gebürstetem Edelstahl gehalten. Im Bad lagen in Seidenpapier eingewickelte französische Seifen bereit, die nach Gebrauch über Nacht von unsichtbaren Händen gegen neue ausgetauscht wurden. Im ersten Stock waren alle Wände herausgerissen worden, um einem riesigen Versammlungs- und Konferenzraum Platz zu geben, der mit jeder erdenklichen Technik ausgestattet war, Beamer und Leinwand, Kopierer, mehrere Rechner und WLAN inklusive, und in dessen Ecken drei kleinere und eine größere Sitzecke Platz gefunden hatten, die mit massiven Ohrensesseln bestückt waren.

Im zweiten Stock schließlich, direkt unter dem Dach, lagen drei Schlafzimmer, in denen, wer zu Hause keine Legende aufrechtzuerhalten hatte, nach einer Aktion übernachten konnte. Auch Samson machte davon bald sporadisch Gebrauch, weswegen er, nur zur Sicherheit, niemals sein Notizbuch nach Potsdam mitnahm, in dem er leidlich codiert notierte, was er in Erfahrung brachte. Nur dass das nicht allzu viel war. Jedenfalls wenn es darum ging, und darum ging es ja, den Anschlag auf Lutfi Latif aufzuklären. War das hier wirklich der Nukleus einer militanten Organisation, die schon einen Massenmord auf dem Gewissen hatte? War der dicke Chevalier, der, wie er Samson bei einem Treffen leutselig erzählt hatte, einen Laden für Military-Bekleidung im Wedding führte, ein Terrorist? Plante Renatus, der auf einer Privatdozentenstelle gescheiterte Politologe, im Kopf schon das nächste Massaker? Konnte Missy, die an einem der lauen Sommerabende, die Samson in Potsdam verbrachte, in einem überraschenden Anflug von guter Laune und Mütterlichkeit für alle Anwesenden in der Edelküche im Erdgeschoss Pasta Arrabiata kochte, auch Sprengstoff kochen?

Er wusste es nicht. Noch nicht. Aber es gab zumindest keinen Grund daran zu zweifeln, dass das Kommando Karl Martell eine veritable Versammlung von Verschwörern war, die jeder für sich und alle gemeinsam der Überzeugung waren, Teil eines Heiligen Krieges zu sein. Die wie befreit wirkten, weil sie endlich, endlich die Schwelle vom passiven Opfer zum im Verborgenen wirkenden Widerstandskämpfer überschritten hatten. „Verdammt, das tut so gut!“, hatte Renatus ihm nach der Aktion am Columbiadamm glücklich strahlend gesagt. „Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten, genau zu wissen, was eigentlich zu tun ist, aber mich immer hinter irgendwelchen Ausreden zu verstecken. Verstehst du?“ Pippin verstand und strahlte zurück.

Und Samson verstand auch. Denn Renatus trug denselben Ausdruck im Gesicht wie Humam al-Balawi: die entrückte Glückseligkeit dessen, der zur Tat schreitet. Aber al-Balawis Ziel war es gewesen, zu töten. Galt das für Renatus und Chevalier, Missy und Widukind, Matthäus, Peacemaker, Q und den stillen Ricardo auch?

Die unsichtbare Grenze

Bei allen Aktionen des Kommandos, von denen er bislang wusste oder bei denen er sogar mitgemacht hatte, war niemand verletzt oder getötet worden. In seiner Anwesenheit, nunmehr immerhin schon zwei Wochen, war zudem weder der Tod von Lutfi Latif thematisiert worden noch die Gewaltfrage grundsätzlich diskutiert worden. Nüchtern betrachtet hatte er es bis jetzt mit einer Gruppe Radikaler zu tun, die Gewalt gegen Sachen ausübten. War das am Ende schon alles? Oder war es nur für den Moment alles, und er beobachtete eine Terrorgruppe in ihrer Frühphase? Oder bekam er nur noch nicht alles mit?

Je länger er dabei war, desto mehr vermutete er Letzteres. Immer deutlicher glaubte er eine Art unsichtbare Grenze innerhalb des Kommandos wahrzunehmen. Da waren auf der einen Seite die rastlosen Aktivisten, die nahezu jede zweite Nacht irgendeine Aktion durchführten. Denen es immer um die einzelne, nächste Tat ging, sei sie noch so klein, noch so symbolisch. Es fehlten neue Aufkleber? Sofort meldet Matthäus sich freiwillig! Eine junge Lehrerin aus Hamburg, die von den Ahmets und Alis und Hassans in ihrer Klasse die Schnauze voll hat, weil Ahmet ihr Prügel angedroht hatte, hat einen zwar anonymen, dafür aber äußerst eloquenten Brandbrief über das Einknicken der Kollegien vor der offensichtlich islamisch legitimierten Deutschenfeindlichkeit verfasst – und dieser Brief muss jetzt abgetippt, kopiert und weiterverbreitet werden? Q ist schon dabei! Jemand muss neues Schweineblut in Köpenick abholen? Peacemaker sattelt schon den Pick-up-Truck!

Die Puppe in der Puppe

Widukind mochte per Kopfnicken sein Einverständnis zu diesen Aktionen signalisieren. Aber Samson, der ihn dabei beobachtete, meinte noch etwas anderes im Blick des Staatssekretärs registrieren zu können: den leicht verwunderten, etwas abschätzigen Blick, den der Feldherr auf seine Infanteristen wirft. Der Blick des Generals, der weiß, dass eine Schlacht ja doch nicht der Krieg ist, und dass der Krieg immer noch auf dem Reißbrett entschieden wird.

Nein, irgendwo musste es da noch mehr geben, eine Puppe in der Puppe, einen innersten Zirkel innerhalb des inneren Zirkels, eine weitere Abzweigung in diesem Kaninchenbau, in den er sich gezwängt hatte. Wieso sonst ging es in den großen Runden am Abend nie um Geld, um Strategie, um ein Programm – oder um Sprengstoff?

Widukind war ihm nicht sympathisch. Trotzdem suchte Samson seine Nähe. Schließlich war Widukind vermutlich der einzige Zugang zu den mysteriösen special forces und vielleicht auch zu den Mördern von Lutfi Latif. Aber wenn er ehrlich war, bereitete es ihm auch ein gewisses Vergnügen, mit Widukind zu reden – noch so eine beunruhigende Sache, die ihn nachts nicht schlafen ließ, weil er sich fragte, wie er jemals würde erklären können, dass Widukind kein Idiot war, sondern ein Intellektueller, der aus dem Kopf Winston Churchill zitieren konnte, wenn vielleicht auch nur aus dessen berüchtigter Abrechnung mit dem Islam: „Es gibt keine rückschrittlichere Kraft in der Welt, und wäre die Christenheit nicht geborgen im starken Arm der Wissenschaften, gegen die der Islam so erfolglos ankämpft, dann würde die moderne europäische Zivilisation genauso zugrunde gehen wie einst die Zivilisation des alten Roms.“ „Ja“, ergänzte Widukind dann zumeist nachdenklich, „Churchill war ein unbestechlicher Beobachter. Aber dass wir uns einfach selbst aufgeben würden, hat auch er nicht vorhergesehen.“ Doch mit Urteilen anderer allein gab Widukind sich nicht zufrieden. Er ging den Dingen gerne selbst auf den Grund.

© 2011 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Der Autor liest am Dienstag, 16. August, um 20 Uhr im Roten Salon der Volksbühne aus seinem Roman. Anschließend Diskussion mit Omid Nouripour und Carolin Emcke. Mehr zum Buch lesen Sie auf Seite 16 dieser Ausgabe