Der Sommer wird warm

FILME AUS KANADA „Maple Movies“ heißt die Werkschau des kanadischen Films, die zurzeit durch deutsche Städte tourt. Sie beweist: Kanada schafft es, die eigene Geschichte des Independentfilms konsequent fortzuschreiben

Von Beginn an spiegelte die Reihe die multiple Struktur des Landes wider

VON BIRGIT GLOMBITZA

Wenn der Frühling kommt, dann soll, dann muss sich alles ändern. Dann verkauft Alain endlich den kleinen Schneeschaufelbagger im Vorgarten, der seiner Frau Maryse den Blick auf den Horizont verstellt. Eine Aussicht, die allerdings auch ohne störendes Nutzfahrzeug in der Schachbrettarchitektur der Vorortsiedlung nie zu haben ist. Der Winter ist schuld. Für das stur mit dem Küchenlicht brummende Schweigen zwischen den Eheleuten. Für dieses mit Heizungswärme und Daunenmänteln wattierte Dasein, in dem Maryse das Gespür dafür verliert, wo sie anfängt, wo sie aufhört. Und wo nichts bleibt, außer vergrübelte Resignation und die zerstörerische Begegnung mit dem eigenen Selbst. Wenn nur endlich der Frühling kommt.

In den Bildern von „ En terrains connus“ wird es selten hell. Mit dem Licht fehlt es seinen Protagonisten, den deprimierten Geschwister Maryse und Benoit vor allem an einer Beleuchtung und Bezügen zur eigenen Geschichte. Ihre Mutter ist verstorben, Maryse schaut der Vergletscherung ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen zu, Benoit lebt mit dem kranken, pensionierten Vater, dem Medikamente jeden Geschmackssinn genommen haben. Manchmal sucht Benoit mit einem Metalldetektor die Schneedecke nach verlorenen Wertgegenständen ab und findet dabei gelegentlich ein Spielzeugauto. Ansonsten scheint er beschäftigungslos.

Immerhin hat der spätreife, phlegmatische Mann sich in eine alleinerziehende Mutter verliebt. Doch an den ersten bösen Blicken ihres kleinen Jungen zerschellt bereits Benoits ganzer Restmut. Eine Fahrt zum verwaisten Elternhaus, eine Tageslichtlampe und eine Party sollen die Geschwister zurück an den biografischen Punkt bringen, an dem sie wieder vertrauten Boden unter den Füßen spüren. „Der Sommer wird schön warm“, prophezeit Benoit eines Tages ein seltsamer Kauz in Rentnerbeige, der „aus der Zukunft“ kommt. Das muss als Durchlauferhitzer reichen.

„En terrains connus“ von Stéphane Lafleur, der erste internationale Festivalerfolg des kanadischen Newcomers, ist zugleich der Eröffnungsfilm der diesjährigen „Maple Movies“. Der fünften Werkschau des kanadischen Films, die vom Hamburger Metropolis-Kino ihren Weg über die Leinwände quer durch die Republik nimmt. Seit zehn Jahren wird dieser Länderschwerpunkt von David Kleingers kuratiert und von Rita Baukrowitz auf die Beine gestellt.

Verhuschte Figuren

Von Beginn an spiegelte die Reihe nicht allein nach Produktionsjahren sortiertes kanadischen Filmschaffen wider, sondern die multiple Struktur eines Landes mit gigantischer Ausdehnung und vergleichsweise winziger Bevölkerungszahl, die Koexistenz zweier Amts- und unzähliger indigener Stammessprachen, dreier Produktionszentren (Toronto, Vancouver, Montreal) und die selbstverständliche Gleichzeitigkeit von Underground und Arthouse. Anders als die US-amerikanische Independentszene, die spätestens in den 90er Jahren ihre großen Talente wie Todd Haynes oder Gus Van Sant an die Majors verlor und aus der internationalen Wahrnehmung verschwand, schafft es sein kanadischer Nachbar von der Entwicklung eigenwilliger Stoffe bis zur filmischen Ästhetik, die eigene Geschichte des Independent-Kinos konsequent fortzuschreiben. Mit einer bemerkenswerten Treue, einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und einem guten Gespür für seine oft verhuschten Filmfiguren und ihre unterschiedlichen Fallhöhen.

Die jüngste Ausgabe der „Maple Movies“ führt uns durch die widersprüchlichsten Winkel der Provinzen und Städte. Durch Montreal beispielsweise geht es in „The Trotzky“ von Jacob Tierney, der die Geschichte eines verknallten und Trotzki-besessenen Jungen in seinem eigenen Kosmos erzählt, bis zu den Entfremdungs- und Gentrifizierungsprozessen im Duluth/Saint-Laurent-Viertel in „La Fille de Montréal“ von Jeanne Crépeau. „No Heart Feelings“, eine No-Budget-Arbeit von Sarah Lazarovic, porträtiert Toronto und seine ratlosen Endzwanziger, die noch zwischen Adoleszens und der Ankunft im saturierten Leben schwanken. Durch die gottverlassenen Ölfelder im nördlichen Alberta schlurfen die beiden bierseligen Honks Dean und Teryy in „Fubar II“ von Michael Dowse. Und „Small Town Murder Songs“ von Ed Gass-Donnelly präsentiert uns schließlich einen alternden, aber von Gott erweckten Polizeichef in Ontario, der einen Mord in einer kleinen Mennoitengemeinde aufzuklären hat.

Viele namhafte Regisseure und Regisseurinen haben die „Maple Movies“ von Anfang an begleitet. Die künstlichen, geschlossenen Welten des Kinozeitreisenden Guy Maddin wurden hier vor ein paar Jahren mit „The Saddest Music“ um eine liebevolle Hommage an die Leinwandextravaganzen der Depressionsära erweitert. Dieses Mal ist Maddin mit dem fröhlich pornografischem 16-mm-Kurzfilm „The Little White Cloud That Cried“ vertreten. Ein liebevoller, angemessen überdrehter und selbstverständlich pornografischer Kniefall vor Jack Smith, einem der legendären Regisseure des Queer-Cinema. Denis Villeneuve wurde ein Special mit gleich vier Filmen gewidmet: „Un 32 août sur terre“, Maelström“, „Polytechnique“ und „Incendies“, der unter dem Titel „Die Frau, die singt“ auch außerhalb der „Maple Movies“ derzeit in den Kinos zu sehen ist.

Bruce McDonald, der seit seinen ersten Roadmovies „Roadkill“ (1989) und „Highway 61“ (1991) und seiner herrlich erstunkenen und erlogenen Punkbandlegende „Hard Core Logo“ (1996) zunächst als kühner Headbanger der kanadischen Independentszene galt, hat sich vor zwei Jahren mit „The Tracey Fragments“ (2006) überraschend als einfühlsamer Erzähler einer kunstvoll fragmentierten Adoleszensgeschichte bewiesen.

Dieses Mal begleitet er in „Trigger“ die kurze Reunion einer fiktiven Punkrockband, für die er zahllose Größen aus der kanadischen Musik- und Filmszene auf den Set gebeten hat. Allen voran die wundervolle Schauspielerin Tracy Wright, die kurz nach den Dreharbeiten an Krebs starb und der MacDonald das ganze Projekt von Anbeginn als Memorial zugedacht hatte. Als Bassistin Vic trifft Wright zwölf Jahre nach dem Aus der Band in Toronto wieder auf die ehemalige Frontfrau Kat (Molly Parker). Die beiden Frauen ziehen durch die Nacht. Mit ihnen die eigenen vergangenen Utopien von einem richtigen Leben im kompromisslos Wahrhaftigen und die kleinmütige Ankunft in TV-Karrieren, Drogensucht oder ängstlicher Spiritualität. Ein Liebeserklärung an eine Stadt, an ihren Punkrock und eine tiefe Verbeugung vor Tracy Wright.

■ Spielorte und Programm unter www.maple-movies.de