DER PAPST IST DA
: Tägliches Halleluja

Die Gottesfürchtigkeit der Westdeutschen ist psychedelisch

Auch ich hatte eine Karte für heute Abend. Mein Freund hat sie besorgt – für ein ganz besonderes Paar-Event. Aber ich habe die Karte verächtlich zurückgewiesen. Eigentlich gehe ich gern ins Olympiastadion – es sei denn, der Papst ist da. Jetzt geht mein Freund mit einer anderen Frau zur Pontifex-Messe.

Er ist Katholik, ich bin Atheistin. Wir lieben uns sehr, aber diese Kirche steht zwischen uns. Manchmal fliegen deswegen bei uns die Fetzen. Trotzdem bleibt es dabei: Aus mir wird keine Gläubige und aus ihm kein Atheist.

Vor über zwanzig Jahren, als ich noch hinter der Mauer lebte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich einmal über Glauben, Schöpfung und Klerus reden würde, ohne laut zu lachen. Im Osten war die Kirche was für Dissidenten, die dort eher Schutz vor dem Staat suchten, als zu Gott zu beten. Damals hielt ich auch die Gottesfürchtigkeit der Westdeutschen für psychedelisch, verlogen und überlebt.

Mein Freund ist all das, was ich an Menschen, mit denen ich mein Leben eng teile, besonders schätze: klug, zugewandt, humorvoll, sozial und emotional kompetent. Er ist ein aufgeklärter, moderner Mensch, ein kritischer Kirchgänger, geschieden und Halbzeitvater. Wenn er mit seinen drei Töchtern am Sonntagmorgen in die Kirche zieht, drehe mich noch mal gemütlich im Bett um. Mein Freund sagt, es gehe ihm um „echte Werte“ für seine Töchter.

Meine Tochter hat auch ein Wertesystem. Es folgt vernunftgemäßen und humanistischen Normen: Emanzipation, Eigenverantwortung, Gerechtigkeit, soziales Handeln. Alles komplett ohne Kirche.

Heute Abend wird mein Freund vom Papst erzählen. Ich werde ihm zuhören. Und versuchen zu schweigen und nur mit den Augen zu leiern. Ich kann nicht anders. Er wird weiter reden. Er kann nicht anders.

SIMONE SCHMOLLACK