Radikale Ernüchterung

RESIDENZTHEATER An den Beginn von Martin Kusejs Intendanz knüpfte die Münchner Theatergemeinde große Erwartungen

Martin Kusej ist entschlossen, ein weites Spektrum ästhetischer Handschriften zuzulassen

VON PETRA HALLMAYER

Auf jeden Rausch folgt ein Kater oder an schöneren Tagen sanfte Ernüchterung. Die obamahaften Erwartungen, mit denen München Martin Kusej entgegenfieberte, hatte der neue Intendant des Residenztheaters – wie das Bayerische Staatsschauspiel nun heißt – eifrig angefeuert. „Einen radikalen Neuanfang“ hatte der Österreicher nach der langen Ära Dieter Dorn versprochen, die U-Bahnhöfe mit knallroten Slogans wie „Heimat ist das größte Hindernis“ plakatieren lassen und den Wechsel selbstbewusst mit einer viertägigen Premierenserie eingeläutet.

Der Sturmangriff auf die Sehgewohnheiten der Dorn-Gemeinde jedoch blieb vorerst aus. Vor einer dschungeldichten Lianenwand, starken symbolgeladenen Bildern, versuchte sich Kusej in „Das weite Land“ an einem texttreuen Konversationsdrama. Schnitzlers Ironie tilgend, entwarf er das düster-melancholische Porträt eines der „Herzensschlamperei“ verfallenen Bürgertums, mäandernd zwischen Affären, Narreteien, Beziehungslügen und -arrangements. Traurig lustlose Betrüger und Betrogene allesamt, Gefangene inmitten der Freiheiten, die sie sich nehmen und einander zubilligen, die einen hohen Preis bezahlen für die Pusteblume Glück. Wer über ihre Behäbigkeiten hinwegsah, der konnte in der überraschend konventionellen Inszenierung, deren Zentrum der herausragende Tobias Moretti bildete, die mut- und ratlose Erschöpfung der Multioptionsgesellschaft erkennen, in der das Prinzip des ewigen Neuanfangs seinen Glanz verloren hat.

Viel heftiger aber diskutierte man im Foyer die Frage, was Kusej zu so einem zahmen Einstand bewogen hatte. War er doch davor zurückgeschreckt, die Abonnenten und zahlreichen zahlenden Literaturtheater-Liebhaber Münchens gleich zum Auftakt zu vergraulen? In den Jubel am Ende mischte sich denn sicherlich Erleichterung darüber, dass die angekündigte Revolution vertagt worden war.

Nichtige Kasperbude

Der Verwunderung folgte am nächsten Abend Fassungslosigkeit. Ein so unlustiges Kasperletheater, eine solch atemberaubende Nichtigkeit gab es selten zu bestaunen. Dabei schaut man zu Beginn von Albert Ostermaiers Franz-Josef-Strauß-Farce „Halali“, wenn nackte Jägersmänner mit blutverschmierten Plastikschürzen im Cuvilliés-Theater das Zerlegen von Wild erklären, noch frohgemut der Wiederauferweckung jenes Mannes entgegen, dem der spätere Papst Benedikt am Grabe nachrief: „Er hat wie eine Eiche gelebt. Und er wurde wie eine Eiche gefällt.“ Doch das dürre, morsche Zitatengestrüpp mit Jelinek-Kalauer-Imitaten rund um einen Irrenhausinsassen, der sich für „Bayerns Sonnenkönig“ hält, verglimmt ohne Funken zu schlagen. Vereinzelt leuchtende Momente verlöschen spurlos in Stephan Rottkamps hohllärmendem Spektakel, in dem die armen Schauspieler als Birne mit dem Stil wackeln oder in gerupfte Hendl-Kostüme schlüpfen müssen und das nicht länger nachhallt als ein Knallfrosch.

Als sei der Zickzackkurs Programm, setzte dem Wilfried Minks mit Neil LaButes „Zur Mittagszeit“ ein well-made play entgegen über den einzigen Überlebenden eines Amoklaufs, der aus seiner Rettung Kapital schlägt und zu Gottes Botschafter mutiert – eine unspektakuläre Regiearbeit, die auch gut den alten Spielplan gepasst hätte.

Das konnte man von „Eyjafjallajökull-Tam-Tam“ nicht behaupten. Eine Theater-Sitcom hatte Kusej bei Helmut Krausser bestellt, in dem sich das Star-Ensemble von Birgit Minichmayr bis zu August Zirner vorstellen sollte. Tatsächlich traten die meisten in dem Szenenreigen über 55 am Flughafen festsitzende Passagiere bloß per Video auf. In Anlehnung an die Wander-Projekte der freien Szene verwandelte Robert Lehniger den Marstall in eine Abflughalle, durch die die Besucher von Lautsprechern beschallt zwischen Videowänden und Spielszenen umherirrten. Zwar war diese die mutigste Produktion des Eröffnungsquartetts, doch sie stolperte über das Wirklichkeitsnähe vorgaukelnde Simultanitäts-Prinzip. Statt eines mitreißenden Happenings entstand ein dröge werdendes kuddelmuddliges Allerlei, in dem man von der eventhungrigen Menge vorangeschoben hie und da Textbruchstücke aufschnappte. Lehniger verfremdete und zersplitterte Krausser giftig böse Zeitgeistkomödie so gründlich, dass sich ihre Pointen verflüchtigten.

Kusej setzt auf Kontraste, ist entschlossen, ein weites Spektrum ästhetischer Handschriften zuzulassen. Vielleicht wird daraus schließlich doch noch eine aufregende Spielzeit. Noch ist alles möglich. Zunächst einmal aber ist in München Ernüchterung eingekehrt.