Jeder leidet für sich allein

MÜDIGKEITSGESELLSCHAFT Der Philosoph Byung-Chul Han geht dem Zusammenhang von Gewalt und Moderne auf den Grund

VON THOMAS HUMMITZSCH

Gerade einmal 55 Textseiten umfasste das Bändchen, das den Philosophen Byung-Chul Han im letzten Jahr schlagartig zu einem der gefragtesten deutschen Kulturkritiker machte.

Unter dem Titel „Müdigkeitsgesellschaft“ beschrieb er, welche gesellschaftlichen Folgen die Ablösung des Nicht-Dürfens vom Alles-Können hat. Der Druck, ständig alles zu wissen und zu können, führe zu dem wahnhaften Versuch, sich durch grenzenlose Selbstausbeutung ständig selbst zu verwirklichen, und verursache den „Infarkt der Seele“. Burn-out und Depression seien als pathologische Symptome der Erschöpfung die Kehrseite der Leistungsgesellschaft.

„Topologie der Gewalt“, das neue Werk des in Seoul geborenen und in Karlsruhe lehrenden Professors für Philosophie und Medientheorie, ist eine geistreiche Erörterung des Systems, das der Selbstausbeutung zugrunde liegt.

In der Freiheit, stets und ständig alles tun und zugleich aber auch alles lassen zu können, identifiziert Han die moderne Gewalt, die er als eine „Gewalt der Positivität“ beschreibt. Sie steht der Gewalt der Negativität, der Einschränkung und Begrenzung, wie sie die archaischen und vormodernen Gesellschaften geprägt hat, konträr gegenüber.

Regulierten bei Römern oder Azteken noch Gewalttat und Rache die Verteilung von Macht und Ohnmacht, wurde dieses Rachesystem in den vormodernen Gesellschaften durch ein Strafsystem ersetzt. Gewalt macht seitdem nicht mehr mächtig, sondern schuldig.

Dieses Regelwerk der Gebote und Verbote widerspricht aber der kapitalistischen Leistungsgesellschaft, die sich als „Gesellschaft der Freiheit“ inszeniert, meint Byung-Chul Han. Daher seien die negativen Einschränkungen von außen von der positiven Eröffnung aller denkbaren Möglichkeiten abgelöst worden.

Ist dies nicht zu begrüßen? Ermöglicht nicht erst die Befreiung des Individuums aus dem Zwangskorsett der Gewalt die Individualisierung und Selbstbestimmung, die die modernen Gesellschaften innovativ, bunt und lebendig macht? Ganz falsch ist diese Annahme nicht, sie führt jedoch zu dem Missverständnis, Gewalt könne einfach verschwinden. Sie löst sich aber nicht auf, sondern ändert ihre Gestalt. Unter dem Bann der Leistung arte die Freiheit in einen Zwang aus. Herrschte im industriellen Zeitalter noch das Prinzip der Fremdausbeutung, die ein natürliches Ende hatte, ist die postindustrielle Gesellschaft von der grenzenlosen Selbstausbeutung geprägt. Jeder „konkurriert letzten Endes mit sich selbst und sucht sich selbst zu überbieten.“

In einer solchen Welt wird das Ego zur Ware, wie allerorten zu beobachten. Unser Leben steht bei Facebook & Co. im Schaufenster, zur Bewertung freigegeben. Freiwillig geben wir unsere letzten persönlichen Geheimnisse preis und beteiligen uns am Ausverkauf der Seele zugunsten der Steigerung des eigenen Marktwertes. Das digitale Gezwitscher ist Beleg des unaufhörlichen Buhlens um Aufmerksamkeit, ganz nach dem Motto: Ich bin, also twitter ich!

Die Gewalt, die in die Müdigkeitsgesellschaft führt, kommt aus uns selbst, macht Han deutlich. In uns tobt ein Krieg, der sich „bis in die Seele eines jeden“ verlängert, schreibt er. Dieser liefert jedes Leistungssubjekt dem Imperativ der kapitalistischen Ordnung aus.

Den Weg aus der liberalen Leistungs- und Dopinggesellschaft deutet Han nur vage an. Man müsse das System der Positivität entschärfen, die „totale Vermarktung der Welt“ verhindern. Er fordert eine Rückkehr zur Kontemplation, den bewussten Rückzug in die Pause als „neinsagendes, souveränes Tun“. Den Leser beschleicht hier das ungute Gefühl, dass sich dahinter die nächste Selbstverpflichtung verbergen könnte.

■ Byung-Chul Han: „Topologie der Gewalt“. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011, 192 Seiten, 19,90 Euro