Verliebt in die Dinge

ES WAR EINMAL EIN JUNGE Grenzen verwischen zwischen den Genres: Die Regisseurin Sandra Kogut ist Gast des Arsenal und des DAAD in Berlin

Stundenlang erfinden die Kinder Geschichten für jedes einzelne Popcorn

Die Luft ist voller Geräusche. Es sirrt, schreit und raschelt, eine Klangwolke voller Leben. Nichts davon ist technisch erzeugt, alles, was zu hören ist, hat vermutlich zwei bis sechs Beine in „Mutum“, einem Film von Sandra Kogut. Man könnte „Mutum“ eine Coming-of-age-Geschichte nennen, aber hat man je von einer solchen gehört, in der weder ein Transistorradio noch ein Popsong vorkommt?

Thiago heißt der etwa zehnjährige Junge, der über dem Betrachten von Ameisen ins Trödeln gerät, statt seinem Vater das Essen aufs Feld zu bringen. Der Tag, an dem Popcorn gemacht wird, ist das größte Ereignis für ihn und seine Geschwister. Stundenlang erfinden sie Geschichten für die Tiere, die sie in den einzelnen Popcorns erkennen. „Mutum“ spielt im Sertao, einem kargen und armen Landstrich Brasiliens, und beruht auf einer Novelle von Joao Guimaraes Rosa, die in den fünfziger Jahren angesiedelt ist. Das Leben dort, stellt Sandra Kogut fest, als sie für die Vorbereitung ihres erstens Spielfilms dort monatelang auf einer Farm lebte, hat sich in fünfzig Jahren kaum verändert.

Sandra Kogut, 1965 in Rio de Janeiro geboren, ist in Brasilien aufgewachsen. Dennoch war selbst sie überrascht, sich eine Tagesreise von Rio entfernt in einer anderen Zeit wiederzufinden. Zurzeit ist sie Gast des DAAD in Berlin und stellt im Arsenal drei ihrer Filme vor.

„Mutum“ von 2007, für den sie schon 25 Preise bekommen hat, gehört dazu. „Mutum“ hat auch eine Story und die ist hart. Ein Kind stirbt, ein Vater wird gewalttätig. Dennoch ist die Ästhetik des Films nicht von Tragik geprägt, sondern von der Selbstverständlichkeit des Alltags. Als ob sich die Regisseurin in jeden einfachen Gegenstand verliebt hätte, in jede Plastikschüssel und jedes Hemd voller Löcher. Die Bildausschnitte sind meist so eng an den Protagonisten geführt, als gälte es, Handbreit für Handbreit diese Welt zu erkunden.

Damit kommt Sandra Kogut ihrem Ziel, die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation zu verwischen, sehr nahe. Diese Strategie führt in ihren Dokumentarfilmen oft zu einem augenzwinkernden Blick: Sie legt mit der Erzählung zugleich den Besteckkasten des Erzählens offen. Lustig und wenn auch etwas abgehetzt in „Adiu Monde ou l’histoire de Pierre et Claire“, vor zehn Jahren in den Pyrenäen gedreht. Fast alle zwei Sätze wechselt da der Erzähler oder die Erzählerin, mit jedem bekommt die Geschichte vom Schäfer Pierre, der eines Tages verschwand, eine neue Wendung. Hat er seine Herde verspielt und wanderte deshalb aus? War er unglücklich verliebt? Kannten ihn die Erzählenden oder erfinden sie was für die Regisseurin? „Wir sind typisch“ ist fast der erste Satz eines alten Mannes, der den romantisch verklärten Blick des Touristen auf sein Leben schon oft erfahren hat, und diesem Typischen geben sie nun vor Sandra Koguts Kamera Zucker.

Sie selbst ist nie im Bild, nicht einmal dort, wo es um ihre eigene Geschichte geht, in „Un Passeport Hongrois“. Ihre Großeltern wanderten aus, als die Nationalsozialisten den Holocaust nach Ungarn brachten. Dass sie Juden waren, mussten sie verneinen, um in Brasilien einwandern zu können. Diese auch traurige Geschichte rekonstruiert Sandra Kogut in einer aberwitzigen Odyssee durch Archive und Botschaften in Ungarn, Brasilien, Frankreich. Alte Passagierlisten der Transatlantikschiffe werden vor ihr aufgeblättert, sie streift vorbei an hunderten von Regalmetern und erfährt ständig neue Regeln für die nationale Identität. Man fragt sich nur, wie sie all die Behördengestalten dazu gebracht hat, vor ihrer Kamera zu agieren.

Koguts Filmarbeit gingen Jahre als Videokünstlerin voraus, in Brasilien und Frankreich. Sie brachte in den 80er Jahren über Videobilder Passanten aus verschiedenen Städten zusammen – fast ein Vorgriff auf das, was dann über das Internet Alltag wurde. Ihren essayistischen Filmen ist die Herkunft aus der bildenden Kunst und einer auch akademischen Reflexion über die Möglichkeiten des Mediums noch immer anzumerken.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ 3. Nov. „Adiu Monde …“ + „Un Passeport Hongrois“, 4. Nov. „Mutum“, jeweils 20 Uhr, im Anschluss Gespräch mit der Regisseurin