Wild, schön und kompromisslos

JAZZFEST Carla Bley verarbeitet in ihrem filigranen Jazz amerikanische Geschichte – die eigene strenge Kindheit und den Irakkrieg. Am Sonntag wird die 75 Jahre alte Pianistin mit dem Swallow Quintet in Berlin spielen

Carla darf nicht ausgehen, sich nicht schminken, nicht tanzen. Mit fünfzehn bricht sie die Schule ab

VON MAXI SICKERT

Die braunen Haare lang, den Pony über den Augen. Wild, schön und kompromisslos zeigt sich Carla Bley Anfang der siebziger Jahre auf dem Cover ihrer Jazzoper „Escalator Over The Hill“, eines monumentalen Werks aus Jazzrock, indischer Percussion und Free Form. Inzwischen aber gibt sich die 75-jährige Pianistin, Komponistin, Arrangeurin und Dirigentin ernst und zurückhaltend. Das silbrig blonde Haar umrahmt ihr schmales Gesicht, die Augen sind unter dem langen Pony kaum zu sehen.

Es ist ein verstecktes Gesicht, ungeschminkt und verschlossen. In ihren Kompositionen hingegen setzt sie sich immer wieder offen mit ihrer eigenen Kindheit und der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Identität Amerikas auseinander. Sie tut es in ihren Arrangements für Charlie Hadens Liberation Music Orchestra 1969 gegen den Vietnamkrieg oder auf ihrem Album „Looking For America“. Auf der Höhe der Bush-Ära und zwei Jahre nach dem 11. September entwirft sie dort ihre eigene Nationalhymne. 21 Minuten lang ist Bleys „National Anthem“. Darin zerpflückt sie die Symbole des amerikanischen Patriotismus und zeichnet ein Bild der Mütter, die noch die Flagge hissen, wenn ihre Söhne im Irakkrieg gestorben sind oder mit zertrümmerter Seele zurückkehren.

Solche aktuellen Konflikte, die in die Familien hineinreichen, setzt sie immer wieder mit ihrer eigenen Kindheit in Verbindung. Zuletzt auf ihrer Aufnahme „Carla’s Christmas Carols“, die 2008 zum Teil live in Berlin aufgenommen wurde. Tradition spielt in ihrer Musik eine besondere Rolle. Dazu gehören die orgelbegleiteten Hymnen aus der Zeit, als sie in der Kirche aufwuchs, die europäische Musik der zwanziger und dreißiger Jahre von Schönberg bis Kurt Weill und die sparsamen, zersplitternden Akkorde von Thelonious Monk. Bley erfindet seidig fließende Melodien, die sich sanft ausbreiten, um dann in nervöse Strukturen zu zerfasern. Sie schichtet Themen, die ihre Kindheit bereisen. Wort- und Klangfetzen aus dem Radio, das Geräusch der vorbeifahrenden Züge und die Gesänge in der von ihr so traumatisch erlebten Kirche. „I Hate to Sing“ heißt eine Komposition auf dem gleichnamigen Album von 1984. Eine andere darauf „Piano Lesson“, anspielend auf die strengen Stunden bei ihrem bibeltreuen Vater, dem Kirchenorganisten Emil Borg, die begannen, als sie vier Jahre alt war.

Das Elternhaus des Mädchens aus dem ländlichen Oakland ist geprägt von Strenge und Gottesfurcht. Sie darf nicht ausgehen, sich nicht schminken, nicht tanzen. Mit fünfzehn bricht sie die Schule ab und arbeitet in einem Plattenladen, wo sie Aufnahmen von Monk hört. Sie verlässt Oakland und kommt mit siebzehn, es ist das Jahr 1953, nach New York, um den neuen, abstrakten Jazz zu hören. Dekonstruierte Melodien, zerklüftet, weiträumig, verletzlich. Um der Musik nah zu sein, verdingt sie sich in den Nachtclubs als Zigarettenmädchen, Garderobiere und Verkäuferin von Stofftieren. Im Jazzclub Birdland lernt sie den Pianisten Paul Bley kennen und heiratet ihn. Er ermutigt sie, selbst zu spielen und zu komponieren. Sie nennt diese Zeit ihre „kleine Subkultur“.

1959 trifft sie den Bassisten Steve Swallow, der mit Paul Bley und Jimmy Giuffre spielt. Doch zuerst trennt sie sich von Bley, um den Trompeter und Komponisten Michael Mantler zu heiraten, mit dem sie 1965 das Jazz Composer’s Orchestra gründet. Ein Jahr zuvor hat der Free-Thing-Trompeter Bill Dixon zur Oktoberrevolution des Jazz aufgerufen. Die Musiker sollten sich selbst organisieren, um sich von Plattenfirmen und Clubbesitzern unabhängig zu machen. Bley und Mantler setzen das Konzept um, gründen ein eigenes Plattenlabel und machen Aufnahmen mit dem jeweils unterschiedlich besetzten Orchester. Doch das selbst verwaltete Projekt ist nicht von Dauer. Der letzte Auftritt des JCO findet 1975 statt. Mantler und Carla Bley gründen daraufhin das Label WATT, auf dem seither ihre Aufnahmen erscheinen.

1978 wird Steve Swallow Mitglied der Carla Bley Band. Swallow, der erst mit achtzehn Jahren Bass zu spielen begann und in Yale Literatur und Komposition studierte, wechselte 1968 als einer der ersten Jazzmusiker zum E-Bass und entwickelte eine für dieses Instrument ganz neue und sehr sensible Klangsprache. In den achtziger Jahren werden Swallow und Bley ein Paar und feiern ihre Liebe öffentlich, wie 1988 auf dem Album „Duets“, dessen Cover sie küssend zeigt. Seit mehr als dreißig Jahren treten sie bei beinahe jedem ihrer Konzerte gemeinsam auf, so auch am Sonntag beim Jazzfest. Auf der Bühne zeigt sich ihr Zusammenspiel immer wieder als behutsames Umspielen, achtsam und zärtlich.

■ The Swallow Quintet feat. Carla Bley, 6. 11., 20:00 Uhr, Haus der Berliner Festspiele