Im gespannten Dazwischen

TANZ Kaum ein Tanzstück spaltet das Publikum so punktgenau: In ihrer Transgenderrevue „Gardenia“ lassen Alain Platel und seine Compagnie Les Ballets C de la B eine Gruppe alternder Transvestiten noch einmal für eine letzte große Revue auf die Bühne

Seine Kraft gewinnt „Gardenia“ aus den Spannungen, die das Stück aufspannt

VON ROBERT MATTHIES

Die Geschichte ist schnell erzählt: alternde Transvestiten und Transsexuelle kommen nach dreißig Jahren Tingeltangel noch einmal für einen letzten Revueabend zusammen und beginnen mit der routinierten Verwandlung – die nicht immer mehr richtig gelingen will. Der Hintergrund ist dabei kein bisschen gespielt: zusammengetrommelt hat das Personal des Abends die transsexuelle Komödiantin Vanessa van Durme: alte Freunde, die längst kein glitzerndes Kostüm mehr im Schrank hängen haben. Und auch die Idee hat einen realen Hintergrund: Als Inspiration diente die Doku „Yo soy así“ über die letzten vier Tage des nach 100 Jahren geschlossenen Transvestiten-Theaters „La Bodega Bohemia“ in Barcelona.

Das ganze Drama aber enthüllt sich erst, wenn das Publikum hinzukommt. Denn weiter auseinander können die Meinungen über ein Tanzstück nicht gehen: Eine Hälfte des Publikums rührt Alain Platels gemeinsam mit seiner Compagnie Les Ballets C de la B und dem Theatermacher Frank van Laecke erarbeitete Stück „Gardenia“ stets zu Tränen. Sie feiert das eigens für die Körper und Stimmen der Brüsseler Transvestiten und Transsexuellen geschriebene Stück als authentische Symphonie queerer Lebensverläufe, als mutig-subversive Verwirrung gewohnter Wahrnehmungen von Authentizität und als beißende Kritik heteronormativer Uniformitätszwänge. Sie applaudiert einem gelungenen Spiel mit Sehnsüchten und einem glamourös-wehmütigen Nachdenken über das Altern, die Notwendigkeit zur permanenten Verwandlung und das Recht, zu sein, was man „nicht“ ist.

Die anderen wiederum können in „Gardenia“ nicht mehr als eine sentimental-nostalgische Vorführung abgedroschener Klischees erkennen: ein im immerzu wiederholten tänzelnden Schminken, Kleideranlegen und Posieren nur an der Oberfläche verbleibender und letztlich ermüdender Bilderreigen: eine „schmockschnulzige Transvestiten-Hommage“ sei das, die unter den Erwartungen an Platels unbestrittenen Erfindungsreichtum bleibe, befand etwa die Ballett-Kulturhistorikern Dorion Weickmann in der Süddeutschen.

Die Wahrheit, wenn es denn darum ginge, wird also irgendwo dazwischen liegen, könnte man schließen. Oder genauer: im unheimlichen Dazwischen und dem nicht minder unheimlichen Verlangen, auf eine seiner Seiten zu gelangen. Und tatsächlich gewinnt „Gardenia“ seine – so punktgenau spaltende – Kraft aus den Spannungen zwischen Sehnsucht und Erfüllung, Plan und Ausführung, Identität und Performanz, Ernsthaftigkeit und Spiel, großspurigem Gerede und kleinlautem Eingestehen, Erwartung und Enttäuschung, die das Stück aufspannt – auf der Bühne, zwischen Bühne und Publikum, im Publikum.

■ Hamburg: Mi, 16. 11. bis Sa, 19. 11., je 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20