Die Fremdscham ist groß

KINO In Nicolas Wackerbarths Langfilmdebüt „Unten Mitte Kinn“ proben acht Studenten einer Schauspielschule für ihre Abschlussarbeit. Ihr machtbewusster Schulleiter macht in dem Film eine entlarvende Handbewegung

Das Stück, das die Studenten einstudieren, „Nachtasyl“, lässt sich wie eine Illustration ihrer Ängste und Sorgen lesen. Indem sie Obdachlose und Säufer spielen, malen sie die Vision einer möglichen Zukunft an die Wand

VON CRISTINA NORD

Es gibt Gesten, die in der Öffentlichkeit auszuführen auf eine gewisse Nachlässigkeit im Umgang mit anderen schließen lässt. Zum Beispiel die: Man nimmt den Zeigefinger, steckt ihn ins Ohr, popelt in der Ohrmuschel, zieht den Finger aus dem Ohr hinaus, blickt auf das angesammelte Ohrenschmalz, schnuppert daran, zerreibt es und schnippt es schließlich auf den Boden.

In Nicolas Wackerbarths Langfilmdebüt „Unten Mitte Kinn“ gibt es eine Figur, die diese Geste ausführt, während sie mit mehreren anderen Figuren in einem Raum sitzt. Genauer: bei einer Theaterprobe. Franz Borchert, ein Mann um die 60, ist Leiter einer Schauspielschule. Zu seinen Aufgaben zählt es, acht Studenten und Studentinnen zu betreuen, die kurz vor dem Abschluss des Studiums stehen und an einer Inszenierung von Maxim Gorkis „Nachtasyl“ arbeiten; damit wollen sie sich in zwei Wochen den eigens zu dieser Vorführung anreisenden Intendanten empfehlen. Ihre berufliche Zukunft hängt also davon ab, wie gut die Inszenierung gelingt.

Doch Borchert (Fritz Schediwy) ist ein unzuverlässiger Kerl, vom Habitus her ein Altachtundsechziger, eitel, machtbewusst und überempfindlich. Obwohl das Intendantenvorsprechen kurz bevorsteht, erscheint er nicht zu Proben; die Studenten sind ratlos, verzweifelt fast, bis sie Ersatz organisieren. Frau Trampe (Ursula Werner) springt ein, eine Frau um die 60. Kaum hat die es geschafft, der Inszenierung erste Konturen zu verleihen, tritt Borchert wieder auf den Plan, setzt sich während einer Probe dazu, beteuert, nicht stören zu wollen, und tut dann alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, unter anderem steckt er sich den Zeigefinger ins Ohr.

Mit derlei groben und auch mit feineren Mitteln signalisiert er seine Geringschätzung für Frau Trampe, die nach einer Weile entnervt das Feld räumt. Obwohl die Studenten die Perfidie der Situation erfassen, machen sie keinen Mucks, denn sie fürchten, es sich mit Borchert zu verderben.

„Unten Mitte Kinn“ ist aus Improvisationen heraus entstanden; der Film wirkt in seinem ersten Drittel fast dokumentarisch, ganz so, als schauten Wackerbarth und der Kameramann Bernhard Keller tatsächlich bei Proben und Unterricht in einer Schauspielschule zu. Gedreht wurde in der Berliner UdK und in der Akademie der Künste am Hansaring, die lichten, klaren, modernen Räume versprechen eine Transparenz, die damit kontrastiert, wie verkorkst die gruppendynamischen Prozesse sind. Immer wieder geht es um Macht und Machtmissbrauch, um Mobbing und Manipulation, übergriffiges Verhalten und um die Frage, wie man sich dagegen wehren kann, solange man zögert, sich als Gruppe zu organisieren. Gleich in der ersten Szene etwa macht der Bewegungstrainer eine Studentin zur Schnecke, weil ihr Gang an diesem Tag unsouverän wirkt; in einer anderen erzählt der Sprecherzieher, der Borchert eng verbunden ist, Lügengeschichten über Frau Trampe: Sie belästige Studentinnen sexuell. Dabei ist es in Wirklichkeit der Schulleiter, der keine Gelegenheit verstreichen lässt, die jungen, attraktiven Frauen in den Arm zu nehmen, am Rücken oder an der Schulter zu berühren. Die Fremdscham ist groß.

Das Stück, das die Studenten einstudieren, „Nachtasyl“, lässt sich wie eine Illustration ihrer Ängste und Sorgen lesen. Indem sie Obdachlose, Huren und Säufer spielen, malen sie die Vision einer möglichen, schrecklichen Zukunft an die Wand; ihr Alptraum heißt Hartz IV. Was „Unten Mitte Kinn“ über die spezifische Schauspielschulen-Situation hinausweisen lässt, ist der Umstand, dass Wackerbarth furchtlos einem zentralen Widerspruch des Kulturbetriebs ins Auge schaut: Man tut so, als drehe sich alles um so noble Dinge wie die Kunst, um das Hervorbringen neuer Ausdrucksformen, um neue Erkenntnisformen und ästhetische Genüsse. In Wirklichkeit regieren Eitelkeit und Geltungsdrang, und das Machtstreben kann sich umso besser durchsetzen, je mehr man sich als Künstler von den Konventionen des zivilisierten Miteinanders befreit wähnt.

■ „Unten Mitte Kinn“. Regie: Nicolas Wackerbarth. Mit Kathleen Morgeneyer, Anne Müller u. a. Deutschland 2011, 89 Min., ab Donnerstag im fsk