Verfolgung in Neukölln und anderswo
: Der Irre glaubt, es wäre der sechsundfünfzigste Advent

Liebling der Massen

ULI HANNEMANN

Fast habe ich das Gefühl, der Mann verfolgt mich. Trotz meines strammen Schrittes hält er mühelos den unangenehm knappen Abstand. Verringere ich das Tempo, wird auch er langsamer, bleibe ich stehen, verharrt er ebenfalls. Das einzige, was ich noch versuchen könnte, wäre umzudrehen und in die Gegenrichtung zu marschieren, aber da muss ich nicht lang.

Gut, könnte man jetzt einwenden, das ist alles noch kein Grund zur Panik, denn immerhin bin ich keine blutjunge Novizin, blind, auf Krücken und im Minirock (ein etwas seltsamer Orden, ich weiß, bestimmt irgendwas zu Ehren von Maria Magdalena, außerdem ist es furchtbar warm), die sich um zwei Uhr morgens in die menschenleere Sackgasse einer von radikalislamistischen Rockern geprägten südafrikanischen Hafenstadt verirrt hat (ein Kollege meint, das sei genau das, was er an mir zugleich bewundere und verabscheue: dass ich bei jedem Bild wie im Wahn immer noch einen draufsetzen müsse, und noch ein Schuss Sahne dran und schön geriebener Käse rein und am Ende noch Speck drauf – eigentlich schreibe ich, wie ich koche. Der Purist hätte für dieselbe Metapher einfach nur eine Frau nachts vor die Tür geschickt, bumms, fertig, aus, aber das wäre erstens auf seine verallgemeinernde Art sexistisch, denn vielleicht kann sie sich ja ganz prima wehren – Trickboxen, Yoga, Phad Thai –, und zweitens: Wer kurze Sätze schreibt, schneidet auch Katzen die Schwänze ab und hat überhaupt große Angst vor der bunten Vielfalt des Lebens).

Zefix, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, richtig: Kein Grund zur Panik. Denn, wie gesagt, befinde ich mich gar nicht in besagter Hafenstadt (hatte ich eigentlich erwähnt, dass in der Sackgasse von den ursprünglich ohnehin nur drei Straßenlaternen zwei kaputt sind und die dritte gerade mal so notdürftig vor sich hin funzelt wie das ewige Licht, das unserem armen Mädchen nun bald leuchten wird?), die übrigens berüchtigt ist für ihren florierenden Waffen-, Drogen und Frauenhandel, wobei Letztere einfach auf ihren nächtlichen Spaziergängen in dunkle Geländewagen eingesammelt und anschließend en gros in entfernte Scheichtümer verschifft werden, sondern auf der Karl-Marx-Straße in Neukölln, die am helllichten Tag voller Passanten ist.

Doch das beruhigt mich nicht. Eher im Gegenteil, denn laut Statistik kommen, speziell bei Kriegshandlungen, die meisten Menschen sowohl am helllichten Tag als auch in belebten Gebieten ums Leben. Das ist logisch, denn nur wo viele Menschen sind, können auch viele Menschen ums Leben kommen. Außerdem kann man sich im Dunkeln besser verstecken.

Zu allem fähig

Was mir an dem Mann in meinem Rücken ja am unheimlichsten ist: Während er hinter mir her latscht, spricht er in einem fort laut „Sechsundfünfzig“ vor sich hin, sonst nichts, nur die Zahl Sechsundfünfzig. Ich weiß nicht, ob die Dimension der Bedrohung für Außenstehende auch nur halbwegs nachvollziehbar ist, doch bei mir sorgt der Umstand, dass mich seit mindestens zehn Minuten ein irgendwie gemein aussehender Verrückter verfolgt, der monoton das Wort „Sechsundfünfzig“ wiederholt, für erhebliche Anspannung. Sechsundfünfzig. Ich kann diese Zahl instinktiv nicht ausstehen. Glaubt der Irre etwa, heute wäre der sechsundfünfzigste Advent? Vom ersten Advent 2010 an gezählt, dürfte das sogar ungefähr hinhauen. Aber eher noch handelt es sich um die Anzahl der unschuldigen Passanten, die er heute bereits bestialisch um die Ecke gebracht hat – so jemand ist doch im Grunde zu allem fähig!

Irgendwann löst sich die Spannung: Als ich nämlich das Haus – was für ein Treppenwitz im Grunde! – Nummer 56 passiere, bleibt mein Schatten zurück.