Lieber Nachfühlung als Analyse

KALEIDOSKOP In den Kinos: Renato Martins Filmmontage „A Letter to the Future“ – ein so interessantes wie zwiespältiges Alltagsporträt aus Kuba

Diego, ein aufgeweckter Junge von zehn Jahren, wirft seinem Urgroßvater Pipo im Scherz vor, ein Fan George W. Bushs zu sein. Später schreibt er den Brief an die Zukunft, der dem Film seinen Titel gibt und dessen Adressat er, als angehender Erbe der kubanischen Revolution, in gewisser Weise selbst ist. Diego ist das jüngste Mitglied der Familie Torres, deren Porträt der Dokumentarfilm „A Letter to the Future“ zeichnet. Vier Generationen der Torres, die man dem gesetzten Kleinbürgertum zurechnen könnte, würden sie sich denn in einer bürgerlichen Gesellschaft bewegen, werden vorgestellt, fast alle Familienmitglieder leben in Havanna, nur ein Sohn ist nach Miami ausgewandert.

Fünf Jahre lang arbeitete der brasilianische Regisseur Renato Martins an dem Projekt, der fertige Film greift aber noch deutlich weiter aus: „A Letter to the Future“ stellt neben die neuen Aufnahmen – Interviews und Alltagsbeobachtungen aus Kuba, auch aus Miami finden ein paar Bilder ihren Weg in den Film – altes, vorgefundenes Filmmaterial, hauptsächlich körnige, oft schwarzweiße Homemovies, gedreht auf 8 mm und auf Video; die typischen Schlieren und Artefakte dieser Formate tragen die biografischen und historischen Schichtungen, die sich im Verlauf des Films ergeben, schon in die Texturen der Bilder ein. Darüber hinaus markiert oder datiert Martins die Schnipsel kaum, es geht eher um einen vielstimmigen, flexiblen Erinnerungsstrom als um eine geordnete Investigation der Vergangenheit und ihrer Spuren in der Gegenwart. Die flächig über die Bilder und Zeitebenen verteilte Musik wirkt in dieselbe Richtung.

Neben den Torres tauchen im Laufe des Films andere Menschen auf, vor allem einige Afrokubaner, deren deutlich armseligere Behausungen zeigen, dass ökonomische Ungleichheiten auch an der Schwelle zum sechsten Jahrzehnt der Revolution nicht verschwunden sind. Selbst in diesen Passagen wird „A Letter to the Future“ allerdings nicht zu einem auch nur im erweiterten Sinne kritischen Film. Nicht nur kommt Kritik an den Verhältnissen, die über lächelnd vorgetragene Beschwerden über Stromausfälle und Wasserknappheit oder allgemein gehaltene Zukunftsängste hinausginge, schlicht und einfach nicht vor; auch und vor allem sucht der Film den Modus der Analyse von Anfang an nicht. Stattdessen möchte Martins, zum Beispiel in einer längeren Sequenz, die Boxtraining und Tanzübungen alterieren lässt, eine Stofflichkeit des Alltagslebens einfangen, die sich, das ist wohl die implizite Behauptung, auch durch Armut und Unfreiheit hindurch nachfühlen lassen soll.

Aus dieser Perspektive kann man sich auf die Bilder aus Kuba einlassen. Das Problem ist dann eher, dass „A Letter to the Future“ in seiner kaleidoskopischen Form und seiner thematischen Spannweite dennoch den Anspruch nicht aufgibt, gleichzeitig auch ein Film über den Status quo der kubanischen Revolution zu sein. Und diesem letzteren Film muss man den Vorwurf der Intransparenz machen.

LUKAS FÖRSTER

■ „A Letter to the Future“. Regie: Renato Martins. Dokumentarfilm, Brasilien 2011, 85 Minuten