Die Schwäche, gehofft zu haben

BEAT Ronald Tavels „Die Straße der Stufen“ erzählt die Liebesgeschichte von Mark & Hamid im Tanger der Sechziger

Ein Leben, in dem Frauen nicht vorkommen und Sex unter Männern eine Selbstverständlichkeit ist

VON MARTIN REICHERT

Marokko, das Land, das Sie nie nieder loslässt“. Mit diesem Slogan wirbt das Königreich im Nordwesten Afrikas derzeit um jene Touristenströme, die Tunesien und Ägypten aus Sicherheitsgründen meiden – und doch ist das Land Teil einer Region im Umbruch. Für den amerikanischen Autor Ronald Tavel war seine Reise nach Marokko Anfang der 1960er, also kurz nach dem Ende der Kolonialzeit und lange vor der Zeit des Massentourismus, ein existenzielles, jegliche Sicherheit hinter sich lassendes Erlebnis, das er in dem Roman seines Lebens „Straße der Stufen“ verarbeitete. Dieses Werk Tavels, der im März 2009 – wiederum auf einer Reise – verstarb, ist nun im „Männerschwarm Verlag“ erstmals in deutscher, gekürzter Fassung erschienen.

Bowles & Burroughs

Tanger, die Hafenstadt – der Ort der Handlung erweckt Assoziationen, die der Roman tatsächlich bedient: Drogen, André Gide, Bowles & Burroughs, Beat und Sex unter Männern. Tavel, der später Drehbücher für Warhol schrieb und in New York das „Theatre of the Ridiculous“ begründete, erzählt die Geschichte des 18-jährigen Mark Crane, der mit seinem Budget von drei Dollar am Tag ein reicher Mann ist – zumindest aus der Sicht jener jungen Marokkaner, mit denen er Drogen nimmt und Sex hat. In einen von ihnen verliebt er sich. In Hamid, einen arbeitslosen Tischler, einen Dieb und Mörder, der auch der Feder Jean Genets hätte entspringen können.

Der Autor erzählt die Geschichte aus der Perspektive der jeweiligen Akteure – und das überzeugend. Sogar die Verwirrung, die sich mitunter ob der vielen verschiedenen Wechsel bei der Lektüre einstellt, passt zum Ort des Geschehens. Bekifft unterwegs zu sein in einer verwinkelten, vor Hitze glühenden orientalischen Stadt wie Tanger, in der nie jemand zu schlafen scheint und der Weckruf des Muezzin morgens um fünf auch mal den Beginn des Abendessens bedeuten kann – das verspricht jene Abenteuer der Selbstfindung, die junge Rucksacktouristen noch heute in orientalischen Ländern suchen.

Dank der verschiedenen Erzählperspektiven vermag es der zum Zeitpunkt des Schreibens noch sehr junge Ronald Tavel, die wechselseitigen Projektionen zwischen Reisendem und Beheimateten in Worte zu fassen. Der Mark, er ist für die Einheimischen ein Symbol der modernen Welt und vielfältiges Objekt der Begierde („Ich habe ihn noch nie in einen Amerikaner gesteckt“). Für den homosexuellen Besucher wiederum ist die raue, scheinbar zeit- und ziellose Welt seiner marokkanischen Freunde – und besonders ihre sexuelle Zugänglichkeit – das Versprechen auf das richtige Leben. Ein Leben übrigens, in dem Frauen entsprechend der traditionellen Praxis der Geschlechterapartheid überhaupt nicht vorkommen und in der also Sex unter Männern eine Selbstverständlichkeit ist, die keinen Namen kennt. Benannt wird der Arsch, der Schwanz, die Penetration, nichts weiter.

Das Missverständnis liegt nahe, und so ist „Straße der Stufen“ auch die Geschichte einer gescheiterten Liebe: „Und falls du mein Bedürfnis, deine mehr oder weniger ehrenwerte Identität zu enthüllen, als Ausdruck von Schwäche abtun willst – war es etwa keine Schwäche deinerseits, gehofft zu haben?“, das Vorwort nimmt das Ende vorweg. Hamid geht mit Mark in die USA, doch ihre Welten lassen sich nicht in Einklang bringen. Hamid kehrt, enttäuscht und gescheitert, zurück nach Tanger.

Die homoerotischen Legenden um Marokko, die von europäischen und amerikanischen Intellektuellen gewoben wurden, zogen im Folgenden unzählige schwule Sextouristen aus aller Welt an – bis heute. Das also, was der junge Mark in den Sechzigern erlebte, ist längst kommerzialisiert. Zehn Euro zahlen die meist älteren Freier, die jungen Männer versuchen ihre Würde zu retten, indem sie ihre Kundschaft verachten. Und ihre Männlichkeit, indem sie gemäß mediterraner Penetrationslogik den aktiven Part beim Sex für sich beanspruchen.

Doch so, wie die Frauen in Marokko nach und nach mehr Rechte erhalten, bekommt auch die Liebe zwischen Männern allmählich einen Namen – erste schwule Aktivisten zeigen Flagge und Gesicht. Die Welt jedoch, die der verstorbene Ronald Tavel in „Straße der Stufen“ auffächerte, sie ist noch nicht verschwunden. Unzählige junge Menschen in Marokko lässt der Traum von Freiheit nicht los. Sehnsuchtsvoll blicken sie auf die andere Seite der Straße von Gibraltar, nach Europa. Doch auch dort, im Westen, sucht man noch immer nach sich selbst.

■ Ronald Tavel: „Straße der Stufen“. Männerschwarm Verlag, 2011, 326 Seiten, 19,90 Euro