In geklauten Hosen

NORDISCH-2 Die norwegisch-deutsche Koproduktion „Anne liebt Philipp“ von Anne Sewitzky ist ein Kinderfilm, in dem realistisch und witzig von den Nöten der zehnjährigen Titelheldin erzählt wird

VON WILFRIED HIPPEN

Realistische Kinderfilme sind selten. Meist werden Märchen- und Fantasiewelten ausgemalt oder von den Abenteuern idealtypischer Cliquen wie den „wilden Hühnern“ oder „wilden Kerls“ fabuliert. Deshalb ist der norwegische Spielfilm „Anne liebt Philipp“ so ungewöhnlich, denn in ihm wird einfühlsam und komplex von den Problemen eines zehnjährigen Mädchens erzählt. Dass Regisseurin und Titelhldin den gleichen Vornamen haben, ist dabei eher ein Zufall, denn der Film basiert auf dem autobiografischen Bestseller von Vigdis Hjorth, der 1984 erschien und seitdem zu den beliebtesten Büchern in Nordeuropa zählt. Von Anfang an spürt man auch den Einfluss von Astrid Lindgren, denn Anne ist ein Trotzkopf und Energiebündel, das schon als Fünfjährige lieber mit den Jungen Wikinger spielen wollte als mit den Mädchen Prinzessin. Als Zehnjährige verkündet sie stolz, dass sie immer das Gegenteil von dem tut, was von ihr erwartet wird, und dass viele sie für seltsam halten würden und die anderen für verrückt. In einer rasanten und fantasievollen Eingangssequenz stellt sie sich, ihre Familie, Schulkameraden und Nachbarn vor und ist durch ihren sympathisch respektlosen Erzählton von Anfang an so präsent, dass nicht nur das Zielpublikum von jungen Mädchen in den Film hineingezogen wird.

Anne hat einen großen Bruder, der sie gerne ärgert, warmherzige und eher gemütlich wirkende Eltern, die sich öfters mal streiten, dann aber wieder vertragen, eine rothaarige beste Freundin und eine hübsche, blonde Schulkameradin, die alles besser kann, bei allen beliebt ist und in Werbespots auftritt. In Annes Straße gibt es ein verwunschenes Haus, vor dem alle Kinder Angst haben und von dem sie sich Schauergeschichten um ein junges Mädchen erzählen, dessen Leiche dort angeblich eingemauert wurde. Hier lässt die Regisseurin Anne Sewitsky schon mal in düsteren Alptraum-Sequenzen Blut aus einer Wand tropfen, und wenn Anne fernsieht, sitzt dabei plötzlich der Kinderkopf ihrer perfekten Konkurrentin auf dem Körper der Bikinischönheit aus einem Werbespot. Auch stilistisch wird hier konsequent aus der Perspektive der Heldin erzählt.

Und deren Leben gerät dadurch in Unordnung, dass sie Philipp trifft – einen netten (und ehrlich gesagt auch ein wenig langweiligen) Jungen, der gerade neu in die Nachbarschaft gezogen ist – und zwar ausgerechnet in das Unglückshaus. Von dieser ersten, so unbedingt erlebten, Liebe erzählt der Film zum Glück gänzlich unsentimental. Denn sie bringt nur Probleme für das junge Mädchen. Dabei geht es um die Gruppenzwänge in der Klasse, um Lügen, Streit, kleine Intrigen, Versöhnung und viele demütigende Situationen für Anne. Da wird vor der ganzen Klasse ein Liebesbrief aus ihrem Tagebuch vorgelesen, sie muss beim Flaschenspiel vor allen anderen Philipp küssen, und weil sie die Hose von ihrem großen Bruder angezogen hat, ohne ihn zu fragen, muss sie sie auf dem Schulhof ausziehen und steht vor allen (und vor Philipp) in Unterhosen da. Gerade mit solchen peinigenden Momenten trifft der Film genau in die Gefühlswelt der Kinder, deren Ängste und Hoffnungen hier klug erkannt und ernst genommen werden.

Angenehm ist auch, dass die Eltern nicht, wie in den meisten Kinderfilmen als ahnungslos oder hysterisch dargestellt werden. Stattdessen sagt eine der Frauen mit „Ich war so ähnlich wie du!“ einen der schönsten Sätze des Films und Annes Reaktion darauf zeigt, wie gut die Regisseurin ihre Heldin kennt.

Dieser norwegische Film, mit dem im letzten Jahr die Reihe Generation Kplus der Berlinale eröffnet wurde, ist eine Koproduktion mit der niedersächsisch/ bremischen Förderanstalt Nordmedia. Zwei Produzentinnen und der Filmkomponist Marcel Noll haben in Deutschland gearbeitet. Jetzt ist man bei internationalen Produktionen so klug, unauffälliger zu arbeiten und nicht mehr wie früher auf Dreharbeiten in den jeweiligen Ländern oder deutschen SchauspielerInnen (wie Margot Trogger in den Pippi Langstrumpf-Filmen) zu bestehen. Die sogenannten Euro-Puddings gehören hoffentlich der Vergangenheit an.