Der alte Fritz im Galopp gen Osten

ZWEITAUSENDJÄHRIGE VORGESCHICHTE Preußens Glanz und Gloria im Reiche Walter Ulbrichts und Erich Honeckers

Das Ziel: eine Nationalgeschichte von der Schlacht im Teutoburger Wald bis zum Paradies namens DDR

VON ILKO-SASCHA KOWALCZUK

Preußen galt und gilt vielen als Hort des Militarismus, der Reaktion, der Unterdrückung. Das berühmte Bonmot „Preußen war kein Staat mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Staat“ bringt das auf den Punkt. Kaiser Wilhelm II. (Amtszeit 1888–1918), der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. (1713–1740) oder dessen Sohn Friedrich II. (1740–1786) stehen als Personen für Preußen und das Preußische schlechthin. Friedrich II., geboren vor 300 Jahren am 24. Januar 1712, nach dem Siebenjährigen Krieg bereits zeitgenössisch „der Große“ genannt, erfuhr nach seinem Tode mit dem Beinamen „der Alte Fritz“ gar eine väterlich anmutende Titulierung, die mit der historischen Figur nicht mehr viel gemein hatte.

Dass Preußen gleichsam als historisches Synonym für Militarismus und Reaktion stand, war keine Erfindung der Kommunisten. Die ostelbischen Rittergutsbesitzer, polemisch oft Junker genannt, waren mit ihrer antidemokratischen Grundhaltung dafür selbst verantwortlich. Ihre starke Identifizierung mit Preußen sorgt dafür, dass die heterogenere Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit kaum wahrgenommen wird. Hinzu kam, dass mit der förmlichen Auflösung Preußens durch die Alliierten 1947 der Mythos gefestigt wurde, Preußen allein habe jene reaktionären Momente verkörpert, die schließlich in der nationalsozialistischen Diktatur, dem Zweiten Weltkrieg und den Massenverbrechen bis hin zur Schoa aufgingen.

In der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte führten deutsche und angelsächsische Historiker und Publizistinnen eine Debatte darüber, wie es zur „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) hatte kommen können. Vor allem angelsächsische Autoren betonten eine direkte Linie, die von Luther über Friedrich II. und Bismarck zu Hitler geführt habe. Weitaus differenzierter, wenn auch nicht ohne geschichtspolitische Ambitionen und mit historischen „Glättungen“ versehen, ist diese Debatte ab den 1960er Jahren in der Bundesrepublik angekommen. Unter dem Titel „Der deutsche Sonderweg“ wurde sie von namhaften Sozialhistorikern nicht minder leidenschaftlich geführt.

Von heute aus mutet dies etwas merkwürdig an. Zwar wird immer noch darüber gestritten, warum ausgerechnet in Deutschland 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und ihre Verbrechen mit größtmöglicher Unterstützung der Gesellschaft verüben konnten. Aber warum dies ein „Sonderweg“ gewesen sein soll, so als gebe es sonst Königswege, denen die anderen Nationen, Staaten und Gesellschaften gefolgt wären, erschließt sich nicht.

Die Kommunisten in SBZ und DDR konnten solche Erwägungen ohnehin nicht beeindrucken. Ihrer Weltsicht lag ein einigermaßen schlichtes Gut-Böse-Schema zugrunde. Sie folgten dem Kompass „historisch-dialektischer Materialismus“ und wussten genau, welche „Gesellschaftsformationen“ sich gleichsam Naturgesetzen folgend ablösen würden.

Die Praxis erwies sich als ein klein wenig widerborstiger. Zwar konnte nach 1945 im kleineren Teil Deutschlands gesetz- und planmäßig der Sozialismus errichtet werden, aber die Widerstände fielen gerade bei jenen stärker aus, die als Schöpfer und Nutznießer des Sozialismus gelten sollten: den Arbeitern und Bauern. Da die SED-Diktatur keine demokratische Legitimation etwa mittels Wahlen aufweisen konnte, kam Geschichtspropaganda und -wissenschaft die Aufgabe zu, das System zu legitimieren. Geschichte war zur Legitimationsinstanz geworden.

Feldgraue Uniformen

Das Verhältnis der SED zur preußischen Geschichte war nach Kriegsende zwiespältig. Einerseits waren sich die SED-Ideologen darin einig, dass Preußen den Hort der Reaktion schlechthin gebildet habe. Andererseits wurden von den DDR-Oberen nicht nur vermeintliche preußische Tugenden, wie der Wille zur widerspruchslosen Unterordnung, Ordnungsliebe, Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Gründlichkeit gefordert. Sie setzten auch preußische Tradition fort – etwa in der Nationalen Volksarmee mit ihren feldgrauen Uniformen, im Paradestechschritt, der Marschmusik oder in den nach Gneisenau und Scharnhorst benannten militärischen Auszeichnungen. Doch die Militarisierung der gesamten Gesellschaft vollzogen die SED-Oberen in einem Grade, der selbst den Soldatenkönig oder seinen Sohn hätte neidisch werden lassen.

Die Rede vom „roten Preußen“, wie in den 1970er und 1980er Jahren im Westen üblich, wenn die DDR gemeint war, verharmlost entweder die Zustände in der DDR oder – anders gewendet – dramatisiert die historischen Verhältnisse in Preußen.

Während der ersten zwei Jahrzehnte ihrer Machtausübung versicherte die SED stets, dass die Wiederherstellung des einheitlichen deutschen Nationalstaates, unter ihrer Führung, ein wichtiges Ziel ihrer Politik sei. Mit dem Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker 1971 verschwand die These von den zwei deutschen Staaten und der einen deutschen Nation. Nun hieß es, dass sich in der DDR eine „sozialistische deutsche Nation“ entwickle. Anders als Ulbricht setzte Honecker weniger auf Geschichte als Legitimierungsfaktor, sondern erhoffte, mit einer durchschlagenderen Sozial- und Konsumpolitik Akzeptanz und Legitimation zu erreichen. Nach wenigen Jahren musste er einsehen, dass dies nicht funktionierte, und kam zurück zur Idee, das System stärker historisch zu legitimieren.

Während der SED-Herrschaft unterlag die Geschichtsbetrachtung verschiedenen Veränderungen. Nach dem Kriegsende bis in die 1950er Jahre wurde die deutsche Geschichte als eine „miserable Geschichte“, als „Irrweg“ der Nation angesehen. Friedrich II. galt als Vorzeigereaktionär – jedes Schulkind lernte dies im Geschichtsunterricht. Daran änderte sich übrigens zwischen 1950 und 1989 kein Deut.

Es trat aber in den 1960er Jahren eine „nationale Geschichtsbetrachtung“ hinzu, die in der deutschen Geschichte vor allem die klassenkämpferischen Auseinandersetzungen betonte. Schließlich setzten Ende der 70er Jahre Modifizierungen ein, die unter dem Stichwort „Erbe- und Traditionsdebatte“ bekannt wurden. Allen drei Phasen war gemein, dass die preußische Geschichte einen wichtigen Stellenwert einnahm. Allerdings nur plakativ als Ursache allen Übels. Das reaktionäre Preußen sei – so die Ansicht der SED-Führung – in der Bundesrepublik aufgegangen. Die sogenannte Erbe- und Traditionsdebatte veränderte dieses Schema geringfügig, da sich die SED nun demonstrativ und offensiv Preußen zuwandte.

Bei dieser „Debatte“ betonten die SED-Historiker, dass es darauf ankäme, eine „Nationalgeschichte der DDR“ zu entwickeln, die nicht nur die Geschichte der DDR, sondern auch ihre „zweitausendjährige Vorgeschichte“ zum Inhalt haben müsse. Dabei müsse sich sowohl mit dem Erbe als auch mit den Traditionen auseinandergesetzt werden. Unter Erbe verstanden sie die gesamte Geschichte mit all ihren „Unannehmlichkeiten“. Traditionen dagegen waren jene historischen Prozesse und Vorgänge, die in der DDR fortgeführt würden und auf denen die Politik der SED basiere. Das bescheidene Ziel bestand darin, eine „DDR-Nationalgeschichte“ zu entwerfen – von der Schlacht im Teutoburger Wald bis zum krönenden Höhepunkt, dem Paradies namens DDR.

Der „neuartige“ Umgang mit Preußen dokumentierte sich allerdings weniger in Büchern – da gab es schon in den 1960er Jahren bemerkenswerte Abhandlungen und noch in den 1980er Jahren aufschlussreiche diffamierende Werke. Er zeigte sich vielmehr auf Straßen und Plätzen, Fernsehen und Theaterbühnen, in den Reden der SED-Politiker oder auf den Etiketten Potsdamer Bierflaschen. Honecker und Hager wiesen nun häufig darauf hin, dass in Preußen nicht alles schlecht gewesen sei.

Das Fernsehen strahlte Filme über Gneisenau und Scharnhorst aus. Die einstige preußische Prachtstraße Unter den Linden in Berlin erhielt durch die 1980 vollzogene Wiederaufstellung des Reiterdenkmals Friedrich II. ein Stück ihres einstigen Antlitzes zurück – was die Regierungen in Moskau und Warschau zu Protesten veranlasste. Der Alte Fritz galoppierte wieder – und auch noch gen Osten, was Ulbricht persönlich 1950 veranlasst hatte, das Reiterdenkmal demontieren zu lassen. Es hatte im Park Sanssouci überlebt.

In den 1980er Jahren wurde im Osten gerätselt, ob der Reiter nicht ursprünglich auf das Brandenburger Tor zuritt (was nicht zutraf), und es nun andersherum aufgestellt worden sei, weil dies sonst einer Aufforderung gleichgekommen wäre, gemeinsam mit Friedrich durch das Tor in den freien Westen zu reiten. Der Volksmund witzelte: „Lieber Friedrich, steig hernieder und regiere Preußen wieder, lass in diesen lausigen Zeiten, lieber Erich Honecker reiten.“

Das Denkmal Friedrichs des Großen symbolisierte am deutlichsten das veränderte Verhältnis der SED zur preußischen Geschichte. Honecker und seine Kollegen versuchten, sich statt im Schatten der sowjetischen Genossen im Lichte von Friedrich dem Großen zu sonnen. Diese Ehre verlieh ihnen aber das Volk nicht. Im Gegensatz zu der Biografie über Friedrich II. von der Historikerin Ingrid Mittenzwei wurden die fast zeitgleich erschienenen Memoiren Honeckers kein Verkaufsschlager.

Als 1986 in Potsdam eine Ausstellung über „Friedrich II. und die Kunst“ erfolgreich gezeigt wurde und der Massenandrang stundenlanges Anstehen erforderte, berichtete das MfS der SED-Führung, dass in weiten Teilen der Bevölkerung die Preußen-Renaissance durchaus begrüßt und vor allem Mittenzweis Biografie gewürdigt werde. Zugleich kritisieren aber viele, dass damit natürlich versucht werde, „den Staat tiefer im Bewusstsein seiner Bürger zu verankern, indem man an preußische Tugenden anknüpft, ohne sie unbedingt zu etikettieren.“ Die differenziertere Betrachtung Friedrich II., so weiter, stelle einen Versuch der SED-Führung dar, „die Bevölkerung mit ihrem Staat und ihrer Geschichte zu versöhnen“.

Renaissance nach 1990

Dass nach 1990 im Osten eine Renaissance Preußens, Sachsens oder Thüringens zu beobachten war, hing mit der ursprünglich einseitigen Verdammung dieser Länder zusammen. In Letschin im Oderbruch, zum Beispiel, ist nach 1945 wie an unzähligen anderen Orten auch das Friedrich-Denkmal geschleift worden. Allerdings hat hier ein ortsansässiger Bauer das Standbild heimlich zur Seite geschafft und in seinen Stallungen versteckt. 1990 holte er es hervor und die Dorfgemeinschaft stellte es wieder auf – neben dem Gasthaus „Zum alten Fritz“. In Berlin-Friedrichshagen wiederum, wo nach 1945 das Friedrich-Denkmal abgerissen und eingeschmolzen wurde, kam es seit Mitte der 1990er Jahre zu einem regelrechten Kulturkampf zwischen Befürwortern und Gegnern der Neuaufstellung einer originalgetreuen Nachahmung des 1904 errichteten Denkmals. Seit 2003 steht auf dem Marktplatz wieder Friedrich der Große herum. Warum, kann eigentlich niemand so genau sagen, weil Friedrich II. entgegen vielen Legenden Friedrichshagen nicht gegründet hat.

In meinem Arbeitszimmer hängt seit etwa 25 Jahren ein Porträtgemälde von Friedrich II. Warum weiß ich auch nicht – wahrscheinlich weil es alt und provozierend ist. Preußen und Friedrich II. werden uns noch viele Jubiläen bescheren. Die lächerlichen Geschichtsbetrachtungen der SED-Ideologen werden da längst vergessen sein.

Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967 in Ostberlin. Hat unter anderem 2009 im C. H. Beck Verlag „Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR“ veröffentlicht