Glauben und Glück

MUSIK ERINNERN Er hat noch immer Bauchschmerzen, wenn er nach Berlin kommt, trotzdem dirigiert Andor Iszák, Überlebender des Budapester Gettos, am Freitag ein Konzert zum Holocaustgedenken im Berliner Dom

Als Kind entdeckte der Junge zufällig die große Liebe seines Lebens: die Orgel

VON IGAL AVIDAN

Neun Tage bevor die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Todeslager Auschwitz befreit hatte, war für das Baby Andor Izsák die Schoah zu Ende. Kurz nach der Befreiung des Gettos in Budapest lag er zum ersten Mal im Arm seines Vaters László, der aus einem deutschen Arbeitslager geflohen war. Andor wurde im Getto geboren und lebte dort als einziger Säugling mit vielen fremden, hungrigen Menschen in nur einem Zimmer. Sogar die Große Synagoge in der Dohánystraße diente als Sammellager für Juden.

Einige Monate zuvor, in der Schlacht um Budapest, zerstörte ein Geschoss die Wand des „Judenhauses“ im Budapester Getto, bedeckte seinen Kinderwagen mit Trümmern. Schreiend befreite ihn seine Mutter Izabella aus dem Geröll – mit verletztem Auge und geplatztem Trommelfell. Kurz danach waren es ausgerechnet Wehrmachtoffiziere, die Andor aus den Händen der mordlustigen ungarischen Pfeilkreuzler, einer faschistischen Miliz, befreiten. Innerhalb von nur acht Wochen wurden mehr als 400.000 ungarische Juden, die Hälfte der jüdischen Bevölkerung, ermordet.

Das Konzert am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus morgen wird Andor Izsák mit ambivalenten Gefühlen dirigieren. Einerseits erinnert er sich an das Konzentrationslager Auschwitz als Symbol für die Judenvernichtung. „Andererseits freue ich mich an diesem Tag der Befreiung, an dem trotz allem viele Juden überlebten, ich auch – durch Glauben und Glück. Ich habe immer Bauchschmerzen, wenn ich nach Berlin komme, weil Berlin für mich als Jude ein Symbol der Zerstörung des Judentums ist. Auf der anderen Seite reizt es mich, dass die Berliner Domkantorei so begeistert von Louis Lewandowskis synagogaler Musik ist. Das bereitet mir Genugtuung und ist ein Zeichen kultureller Wiedergutmachung.“ Die Werke des Berliner Komponisten Lewandowski (1821–1894), der die jüdisch-liturgische Musik vor der Schoah stark geprägt hat, stehen im Mittelpunkt des Gedenkkonzerts.

Trotz seiner Kriegsverletzung bewies Andor Izsák bereits als Kind, dass er über ein absolutes Gehör verfügt. Obwohl die Familie arm war, förderten seine Eltern seinen privaten Klavierunterricht. Als Kind entdeckte der Junge zufällig die große Liebe seines Lebens: die Orgel. Heimlich besuchte er eine christliche Messe – dieses Geheimnis hütete er vor seinen orthodoxen Eltern. Diese duldeten immerhin, dass er mit 13 Jahren begann, als Assistent des Organisten den Chor bei den Gottesdiensten in der neologischen (konservativen) „Großen Synagoge“ in Budapest musikalisch zu begleiten. Als der Organist erkrankte, übernahm Izsák dessen Stelle. Er spielte oft Melodien Louis Lewandowskis, die vor der Schoah in rund 200 meist liberalen Synagogen in Europa beim Gottesdienst erklangen.

Die meisten dieser Bethäuser, die auch eine Orgel besaßen, wurden von den Nationalsozialisten verbrannt und die Beter ermordet. Um diese vergessenen Melodien wiederzubeleben, gründete Izsák mit anderen zusammen Anfang der sechziger Jahre einen gemischten Chor.

Der gab 1962 auch in Ostberlin ein Konzert. Die Mützen der DDR-Grenzsoldaten auf der Bahnfahrt erschreckten ihn, weil sie ihn an die Wehrmachtsoldaten erinnerten. Am Vorabend des Konzerts spazierte er in Richtung Brandenburger Tor, musste aber vor den Absperrungen zurückkehren und nahm sich vor, einmal durch dieses Tor zu gehen. Er besuchte die Große Synagoge in der Oranienburgerstraße, die ihm, obwohl eine Ruine, sehr imponierte – das war noch vor deren Sprengung.

Das Konzert fand damals in der Synagoge Rykestraße statt, die Friedenstempel hieß. „Ich erinnere mich an die miserable Orgel und an den ungeheuren Jubel des Publikums.“ Letzterer bewegte ihn so sehr, dass er beschloss, das Ensemble „Lewandowski Chor“ zu nennen. Die Musiker besuchten auch Lewandowskis Grab auf dem Friedhof Weißensee. Dort sang sein Freund das jüdische Seelengebet „El male Rachamim“, Gott voller Erbarmen.

Seit 1983 lebt Andor Izsák in Deutschland, wo er Lewandowskis Musik durch zahlreiche Konzerte wachhält. An der Musikhochschule Hannover hat er ein Europäisches Zentrum für Jüdische Musik (EZJM) gegründet, das er auch leitet. Der 17. Januar 2012 war für ihn ein Freudentag, wurde doch der neue Sitz der EZJM in der Villa Seligmann in Hannover mit einem Festakt eingeweiht. Izsák dirigierte den Europäischen Synagogalchor.

■ Am Freitag, 20 Uhr, leitet Andor Izsák das Konzert zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Berliner Dom mit Musik von Louis Lewandowski

■ Biografie von Arno Beyer: „Andor der Spielmann. Ein jüdisches Musikerleben“. Olms-Verlag, Hildesheim 2011