Das große Lalala

MUSIKTHEATER Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ an der Berliner Schaubühne – ungewohnt schön

Zwei Konzertflügel und reichlich Betten, in denen das Ensemble ausgiebig zu liegen kommt

In diesem Stück wird viel gesungen. Bei heutigen Theaterproduktionen ist das eigentlich keine Seltenheit, erst recht nicht, wenn es sich um Musiktheater handelt. Im „Wohltemperierten Klavier“ von David Marton jedoch, das am Samstag an der Schaubühne am Lehniner Platz seine Berliner Premiere hatte, wird von den Schauspielern vor allem „lalala“ gesungen – etwa wenn sie mit verteilten Stimmen eine Fuge aus dem titelgebenden Instrumentalzyklus von Johann Sebastian Bach vortragen.

Präludien und Fugen für Tasteninstrumente gehören nicht eben zu den typischen Bühnenstoffen. Allerdings sollte man von dem ausgebildeten Pianisten David Marton ohnehin kein gewöhnliches Musiktheater erwarten. Selbst wenn er sich klassische Opern wie Claudio Monteverdis „Heimkehr des Odysseus“ oder Mozarts „Don Giovanni“ als Material vornimmt, kommt in der Regel etwas heraus, was sich stark von der Vorlage unterscheidet, ohne dass man recht wüsste, was das Ergebnis jetzt genau sein soll.

Ganz ähnlich ergeht es einem mit dem „Wohltemperierten Klavier“. Auf der Bühne sieht man eine geräumige Wohnung, in der zwei Konzertflügel stehen bzw. liegen – dem einen fehlen die Beine – und die ansonsten reichlich mit Betten ausgestattet ist, in denen das Ensemble ausgiebig zu liegen kommt. Eine Handlung im engeren Sinne gibt es nicht, die Schauspieler verkörpern Rollen, ohne dass man immer genau wüsste, um welche Figur es im Einzelnen geht.

Viel Chaos und Verfall

Dass das Publikum nicht völlig mit Bachs instrumentalen Erkundungen alleingelassen wird, verdankt es dem Roman „Melancholie des Widerstands“ des – wie Marton aus Ungarn stammenden – Schriftstellers Laszlo Krasznahorkai. Einzelne Passagen daraus werden rezitiert, hier und da zu Dialogen erweitert, in denen von Bedrohung durch einen faschistischen Mob auf der Straße oder generell viel von Chaos und Verfall die Rede ist. Obwohl Krasznahorkais Buch 1989 erschien, könnte der Text ebenso gut die Stimmung aus Victor Orbans Ungarn dieser Tage wiedergeben.

Eine der Figuren, ein ehemaliger Musikschuldirektor, wird durch das zufällig mitgehörte Selbstgespräch eines Klavierstimmers auf die Abgründe der „wohltemperierten Stimmung“ gestoßen, die Bachs Zyklus nicht nur den Titel gab, sondern es überhaupt erst ermöglichte, dass dieser Musik für ein „Clavier“ in allen 24 Tonarten schrieb. Denn vor der Entdeckung dieser temperierten Stimmung Ende des 17. Jahrhunderts konnte man auf Tasteninstrumenten, für die Stimmungen mit physikalisch nahezu „reinen“ Tonintervallen üblich waren, nur wenige Tonarten verwenden, die übrigen klangen wegen der harmonischen Eigenheiten reiner Töne paradoxerweise „schief“.

Da die Tonabstände auf einem Klavier von einer Taste zur nächsten mittlerweile komplett identisch sind, kann man sich die Revolution der wohltemperierten Stimmung – zu Bachs Zeit entstanden verschiedene Lösungen, von denen sich die konsequent gleichstufige erst später durchsetzte – kaum noch vorstellen. Diese Innovation, die den Komponisten der Klassik und Romantik neue harmonische Möglichkeiten eröffnen sollte, war ihrerzeit umstritten, denn sie bedeutete einen Kompromiss: Um in einer Tonleiter gleichmäßige Abstände zu erhalten, musste man einzelne Töne leicht „verstimmen“, sodass sie physikalisch nicht mehr rein waren. Der frühere Musikschuldirektor nimmt diese Entdeckung zum Anlass, „die akustischen Meisterwerke der menschlichen Beschränktheit“ – von Beethoven bis Brahms – kurzerhand auf den Müll zu werfen.

Bach auf Kommando

In Martons Stück „Das wohltemperierte Klavier“ hören wir Bachs Musik in der heute gebräuchlichen gleich temperierten Stimmung, allerdings nicht immer in ursprünglicher Gestalt. Der Pianist Jan Czajkowski zerlegt die Präludien gern in ihre Komponenten, lässt einzelne Stimmen von Geige und Trompete spielen oder – wie die eingangs erwähnte Fuge – gleich von allen Schauspielern singen.

Das klingt nicht nur auf ungewohnte Weise schön, sondern ist oft genug sehr komisch, etwa wenn Niels Bormann als Polizeipräsident mit der Darstellerin Jule Böwe „Banküberfall“ spielt und diese bei gezückter Dienstwaffe auf sein Kommando Bach singen lässt. TIM CASPAR BOEHME