Auf zweitklassigen Berlinalepartys gibt es Sushi und Sekt, man darf sich nur nicht erwischen lassen
: Lügen, die der Wahrheit ähneln

VON JURI STERNBURG

Endlich Feierabend. Das Fell des Bären ist erlegt und verteilt. Die roten Teppiche werden eingerollt, und kollektive Katerstimmung macht sich breit. Zumindest bei jenen, die nicht zum nächsten Hotspot jetten. Monaco soll ja um diese Jahreszeit erträglich sein, doch der Geist ist chillig und das Fleisch ist schwach. Mitunter schwört man sich, bis zum nächsten Monat keinen Prosecco anzurühren.

Es wurden mal wieder ungezählte Visitenkarten verteilt, Fotos geschossen, Medien- und Firmenpartys nach potenziellen Arbeitgebern durchstöbert und die eine oder andere Nachwuchsschauspielerin mit falschen Versprechungen geködert. Das ist der wahre „Spirit“ der Berlinale.

Nebenher gab es noch die Sorte Veranstaltungen, auf denen man einfach nur gratis Alkohol und Sushi abstauben will und sich unwohl fühlt, wenn man zufällig jemanden entdeckt, den man kennt. So als würde man im Warteraum des Arbeitsamtes einen guten Bekannten treffen.

„Ich wohne um die Ecke, und was ist deine Entschuldigung?“, ist eine gängige Floskel auf zweitklassigen Berlinalepartys. Ein Großteil der Besucher arbeitet raffiniert an den eigenen Lügen, bis sie der Wahrheit ähneln, und behandelt die Wahrheit der anderen als Lüge, da sie es nicht anders gewöhnt sind. Mitunter kann es auf solchen Partys ziemlich einsam werden. Die meisten Gäste sind mehr an sich selber interessiert, und seit ich keine Handtaschen mehr klaue, rennen mir auch keine Frauen mehr hinterher.

Am Samstag hängen die Augenringe so einiger Beteiligter bereits unter dem Dekolleté beziehungsweise der verrutschten Smokingfliege. Dabei gab es bereits nach dem Eröffnungsfilm lange Gesichter, die versammelte Prominenz erklärte einhellig, „erst einmal nachdenken“ zu müssen oder wahlweise „erst mal alles sacken zu lassen“. Nur Armin Rohde erklärte ohne Umschweife, er müsse nicht viel nachdenken, der Film „war einfach schlecht und langweilig. Ich bin fast eingeschlafen.“

Das Drumherum schien diesmal etwas mehr im Vordergrund zu stehen. Es wurde generell weniger geredet als die Jahre zuvor, als man sich gerne über den tieferen Sinn eines vier Stunden langen, mutmaßlich moldawischen Filmes austauschte und die emotionalen Unstimmigkeiten zwischen einem kleinen Jungen aus einem slowakischen Bergdorf und seiner störrischen Ziege zu regen Diskussionen führten. Dabei gab es Unterhaltsames zu entdecken. Etwa den Film über die „Holzbrettfahrer“ vom Alexanderplatz, die ersten Skater der DDR. Eine Hommage an die Träume unserer Jugend und ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die gerne behaupten, dass die DDR nichts als grauer Alltag und voller ebenso grauer Gedanken war.

Nach einer solchen Woche fällt es schwer, in den Alltag zurückzukehren. Also stelle ich mich an die Theke einer neu eröffneten Bar, bestelle „den besten Cocktail, den ihr habt!“, und labe mich an der gratis bereitgestellten Sushiplatte. Man kann eben nicht alle Gewohnheiten abstellen. Der Barkeeper beginnt über Vor- und Nachteile der verschiedenen Cocktails zu philosophieren. „Ich wollte deinen besten Cocktail, nicht deine beste Geschichte!“, entgegne ich ihm und erschrecke augenblicklich angesichts meiner Filmproduzenten-Attitüde.

Im Spiegel hinter der Bar erblicke ich weder einen Kunstmäzen auf dem Weg zu seinem Privatjet noch einen überkandidelten Schauspieler inmitten einer Horde Groupies, sondern nur mich. „Lass das mit dem Cocktail mal bitte und stell diese Sushiplatte weg. Ich nehm ein Pils vom Fass.“ Es gibt nichts Dümmeres, als das Fell zu verteilen, bevor der Bär erlegt ist.