Selbstbewusst beim Faulsein

POP Deichkind sind wieder da. Die Hamburger Krawallschachteln und ihr neues Eurotrash-Album „Befehl von ganz unten“

VON JULIAN WEBER

Sie wäre auch gut vorstellbar als Urszene der Band. Eine günstige Gelegenheit, den Ballaballa-Ruf zu untermauern. Eines unschönen Abends 2008 sind Deichkind als Überraschungsgäste bei der Betriebsfeier einer großen Modefirma geladen. Aus ganz Europa strömen Mitarbeiter der Marke herbei, hatten sich in Schale geworfen, extra für den Anlass. Und dann entern Deichkind die Bühne, und zu den Klängen ihres Hits „Remmidemmi“ versprühen die Bandmitglieder mit Dampfstrahlern Gin Tonic im Saal und schütteln Säcke voller Bettfedern über die klebrigen Modefuzzis, bis diese puterrot von dannen ziehen.

Ob sie sich wegen dergleichen schämen? „Niemals! Wir haben längst alle Schamgrenzen überschritten“, sagt Sebastian „Porky“ Dürre, einer von drei Deichkindern. Wir befinden uns im unverputzten Nebenraum eines Berliner Hotels. Statt behaglicher Noblesse baumeln herrenlose Stromkabel von der Decke, die Heizung funktioniert nicht. Der Fußboden ist mit Metallstaub bedeckt. Fast schon erleichternd, dass die Hamburger Band zum Interview sogar Requisiten angeschleppt hat, ein Miniaturmodell ihrer neuen Bühne, ihre berühmt-berüchtigte rote „Werkzeugkiste“ und ein großes Glücksrad, an dem noch gedreht werden soll. Ich setze im Kopf schon mal das Testament auf. Seit Monaten geistern Videoclips von Songs ihres neuen Albums „Befehl von ganz unten“ durchs Netz. Mit Totenkopf- und Gorillamasken verkleidet marschieren die Bandmitglieder durchs Bild, pöbeln willkürlich Passanten an und machen Ladendiebstähle. Bilder, wie man sie auch von den Riots in Großbritannien kennt.

Der Schlauchboot-Ride

Dürre grinst beim Interview aufsässig, aber er strahlt auch die Gemütsruhe eines Holzschnitzers aus. Er und seine Band leben maßgeblich davon, mit Unsinn Geld zu verdienen. Die Hamburger Band hat die Erlebnisorientierung der Generation „Jackass“ zum Markenzeichen erhoben. Deichkind nutzen die Konzertsituation auf der Bühne für Entgrenzungsrituale. Von außen betrachtet fühlt sich das wie das Wiederaufwärmen alter Rock-’n’-Roll-Mythen an. War die Hotelzimmerzertrümmerung früherer Zeiten den Superstars vorbehalten, dürfen die Fans im Zeitalter der Mikrowelle ein wenig mit ausrasten. Immerhin. So sind denn Deichkind nicht in erster Linie für ihre Musik berühmt, sondern für den Ausnahmezustand während ihrer Konzerte, etwa für den „Schlauchboot-Ride“, den Fans auf den Händen tausender anderer Fans machen dürfen, und das Besäufnis in Überschallgeschwindigkeit, vor und auf der Bühne, das die Band „Druckbetankung“ getauft hat und das mit Bierduschen einhergeht. Infantil ist gar kein Ausdruck. Man weiß nie, inszeniert sich die Band als Reality-TV-Show oder ist sie selbst auch ein wenig gefangen in ihrem Spiel ohne Grenzen?

2009 wurde die Band jäh aus ihrer Fantasywelt gerissen. Damals verstarb Sebastian „Sebi“ Hackert, ihr Produzent und musikalisches Superhirn. Nun also, dreieinhalb Jahre später, erscheint ein neues Album, „Befehl von ganz unten“ betitelt, auch als Andenken an den Verstorbenen. „Da unten liegt er begraben, in unserem Unterbewusstsein“, erklärt Philip „Kryptic Joe“ Grütering. „Er hätte gewollt, dass wir weitermachen.“

Gespür für Populismus

Ein Blick auf die Titelliste ihres neuen Albums verrät vor allem Gespür für Populismus: „Illegale Fans“ (ein Hymne ans Downloaden), „Leider Geil“ (über den Reiz, etwas Verbotenes zu tun), „Partnerlook“ (über den Horror zur Schau gestellter Zweisamkeit), „Bück Dich hoch“ (ein Song über die Machtverhältnisse der kreativen Arbeitswelt). Die Texte landen ihre Treffer immer unterhalb der Schwelle zum Politischen, es geht eher darum, ein Reiz-Frustrations-Schema mit immer neuen Schablonen auszufüllen. „Ihr sagt, wir sind kriminell / Doch wir sind die User /Auch im Knast saugen wir weiter / Copyrights sind was für Loser“, singen Deichkind in „Illegale Fans“. „Wir sind halt borderline“, erklärt Philipp „Kryptic Joe“ Grütering auf die Frage, ob sie sich damit ins eigene Fleisch schneiden. „Zehn Downloads unseres neuen Albums ergeben im Durchschnitt ein Konzertticket“, rechnet Sascha „Ferris Hilton“ Reimann vor. Trotzdem sagt er, man dürfe auch nicht das Augenzwinkernde bei diesem Song vergessen. Er sei aus der Perspektive von Straßenkids geschrieben. Auch Ferris wurde nach eigenen Angaben schon mehrmals wegen illegaler Downloads zu Bußgeldern verdonnert. Grütering stellt klar „Am Ende des Tages sind wir auch ein Unternehmen und wollen Geld verdienen. Und oftmals stellen wir fest, wo ist das ganze Geld hingewandert, wer kriegt unser Stück vom Kuchen ab?“

Ihr neues Album habe für Deichkind vor allem Berechtigung als „Promotool“, wie eine Visitenkarte eröffnet es der Band den Zugang zu Touragenturen und großen Konzerthallen. Die Musik auf „Befehl von ganz unten“ ist wie gehabt: Schranztechno, bollernde Beats, die Stimmen mit Autotune verfremdet. Eurotrash, dargebracht in einer Leck-mich-am-Arsch-Haltung, wie sie jedem deutschen Cowboystiefelträger schon mal nach zwei Bier vorgeschwebt sein muss. Deichkind sind eine Elektronikband mit Rock-’n’-Roll-Ethos.

Am Ende des Gesprächs klopfen Dürre die anderen Bandmitglieder anerkennend auf die Schulter: „Du bist viel selbstbewusster beim Faulsein“, sagt Grütering zu ihm. Seufzend erhebt der sich aus seinem Sessel und dreht für mich am Glücksrad: Der Pfeil bleibt beim „Joker“ stehen. Hauptgewinn: ein Schlauchboot-Ride.

Deichkind: „Befehl von ganz unten“ (Vertigo/Universal). Live: 1. 3. Rostock, 2. 3. Bielefeld, 3. 3. Dortmund, 5. 3. Düsseldorf, 6. 3. Frankfurt a. M., 7. 3. Stuttgart, 8. 3. Saarbrücken, wird fortgesetzt