EXPERIMENTE MIT STROM, EISENBAHNSCHIENEN UND TOTEN TIEREN
: Mein erster Kuss

LIEBLING DER MASSEN

Ich weiß nicht genau, warum ich ausgerechnet heute daran denken muss, wie ich das allererste Mal ein Mädchen küsste. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich gerade über eine Stunde lang laufen war und ziemlich viel Spucke sowie einen ausgesprochen üblen Geschmack im Mund habe. Vielleicht aber auch, weil der Weg dahin so lang und mühselig war.

Das Problem kann man sich ja heutzutage, wo alle Welt wie selbstverständlich wild herumküsst, gar nicht mehr vorstellen – es war ja damals eine völlig andere Zeit. Oldtimer fuhren hupend und klingelnd durch die Straßen, die von zerbombten Häusern gesäumt waren beziehungsweise von Plattenbauten, die ungeachtet ihres Alters oder Zustands einen Geist grundsätzlicher Zerbombtheit verströmten. Darin mussten wir wohnen. Auch die allgemeine Ordnung war eine andere: Exotische Tiere waren in zoologischen Gärten untergebracht, anstatt in Parks die Jogger anzuspringen, die damals noch „Dauerläufer“ hießen oder „wegrennende Handtaschenräuber“. Dreiste Verbrecher wiederum mussten in Gefängnissen Körbe flechten, anstatt Kreuzfahrtschiffe zu steuern oder Bundespräsidentenämter zu bekleiden. Es war nicht alles schlecht.

Für den ersten Kuss eines erotisch erwachenden Knaben war die Zeit jedoch alles anderes als günstig, denn die Informationsgesellschaft steckte noch in ihren Kinderschuhen. Niemand wusste was. Während man heute das Küssen im Internet erlernen kann oder Kuss-Apps herunterlädt, die das Küssen gleich ganz für einen erledigen, gab es zu jener Zeit nichts außer Gerüchten: So hatte mir der Pfister-Joachim (wir wohnten mittlerweile auf dem Land, wo man Vor- und Nachnamen falsch herum nennt) auf dem Schulhof unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten, ein Mädchen küsse man, indem man es zu Boden tritt und ihm anschließend fest mit einem Hammer auf den Kopf schlägt. Dass ich dem schulbekannten Rabauken glaubte, verschaffte der Haubentaucher-Heidi einen heftigen Sprung in der Schüssel und mir ein Gespräch beim Direktor sowie einen Tadel erster Ordnung. So ging es also nicht.

Natürlich gab es auch damals schon die Bravo mit ihrem umfangreichen Aufklärungsteil. Aber um den zu lesen, fehlten mir absolut die Grundlagen: Was nützten mir Ratschläge zum richtigen Einfahrwinkel beim Analverkehr, solange ich nicht wusste, wie und wohin man küssen sollte, ja, was überhaupt ein Kuss war? Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Phantasie walten zu lassen.

Mal stellte ich mir einen Kuss als ein oktaedrisches Gerät aus kunstvoll ineinandergesteckten schmalen Bambushölzern vor, mit denen man auf simple und doch elegante Weise Räume trennen konnte, ein andres Mal als unauffällige hellbraune Kleingazelle mit großen Ohren und kurzen Hörnern, Hauptvorkommensgebiet Südwest- bis südwestliches Zentralafrika. Doch was hatte das mit Mädchen zu tun?

Ich rätselte, überlegte und verwarf. Aber ich hatte Glück, denn in die Klasse unter mir ging die Unterholzner-Jekaterinburga, die man wegen ihres Buckels und ihrer starken Behaarung nur Jeti nannte, doch sie besaß ein überaus liebliches Gesicht, das neugierig in der Welt herumschnupperte: Wenn sie mit den Kaninchen übers Feld tollte, konnte man sie von ihnen nur am Buckel unterscheiden und daran, dass sie wie alle Mädchen auf dem Lande ein buntes Dirndlkleid und eine Frisur wie Julia Timoschenko trug.

Da wir die Einzigen waren, mit denen sonst niemand zu tun haben wollte, übten wir zusammen das Küssen. Sie wusste zwar ebenfalls nicht, wie das ging, doch unsere gemeinsame Neugier machte die unbeholfene Erkundungstour in die Welt der Erwachsenen umso spannender. Wir experimentierten mit elektrischem Strom, von der Regionalzugstrecke gestohlenen Eisenbahnschienen und toten Tieren. Wir ließen einander an Schiffstauen von der Staumauer herab und steckten die Turnhalle in Brand. Und jedes Mal hatten wir, auch wenn das Ziel noch nicht erreicht war, das Gefühl, dem ersten Kuss doch irgendwie ein kleines Stückchen näher gekommen zu sein – es konnte im Grunde nicht mehr lange dauern.